23.01.2024

Briefe



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ID: 21001
Geschrieben am: Dienstag 29.01.1895
 

Frankfurt a/M d. 29 Jan. 95.

Liebe Frau Fellinger,

dieser erste Monat im neuen Jahr soll nicht vorübergehen, ohne daß ich Ihnen für Ihre guten Wünsche gedankt, und Dieselben von ganzem Herzen erwidert hätte. Längst lag es mir auf der Seele, aber, ich |2| bin ja immer durch Allerlei so in Anspruch genommen, daß ich nur mit Mühe fertig bringe, was ich möchte. Hätte man doch nur mit Freunden sich zu unterhalten, wie gemüthlich wäre das, aber, die Anforderungen, die fortwährend an mich gemacht werden von Schülern, Lehrern, Componisten, sonstigen jungen Künstlern, |3| Sie glauben nicht, wie Viel das ist für eine
so alte Frau! Gott sey Dank, daß der Raum des Herzens für die Freunde so groß ist, daß alle lieben Gedanken Platz darin haben! ich bin aber recht geschwätzig wie ich eben entdecke! Also alle guten Wünsche auch für Sie und Ihre Lieben. Ihre Söhne machen Ihnen doch öfters Sorge – möchte das Jahr |4| Sie ganz davon befreien. Wie reizend haben Sie Weihnachten gefeiert! ich beneide oft die Leute die so hübsche Einfälle haben, womit sie solch ein Fest würzen! Daß Brahms darauf hereinfiel muß recht amüsant gewesen sein. Ueber Klinger spräche ich gern einmal mit Ihnen, auch mir schenkte es Brahms, aber, ich kann ihn nur sehr theilweise lieben, und zwar im Landschaftlichen, aber |5| in seinen Gruppen ist mir oft zu greller Realismus, und seine Gestalten nicht schön genug, z. B. nicht wie bei Feuerbach, wo jede Linie des menschlichen Körpers schön ist. Lassen Sie aber, bitte, dies unter uns bleiben, es wäre mir leid Brahms durch mein Urtheil zu verstimmen, da er der Geber! Ich verstehe ja gar nichts, jedenfalls viel weniger, wie Sie, aber ich habe doch Augen für Schönheit. |6| Jetzt ist Brahms in Leipzig, bald hier bei uns. Mrs Shakespeare war nicht hier, hatte auch von mir nichts zu erzählen, ihre Tochter kam diesen Winter nicht, sie mußte in London in die Gesellschaft eingeführt werden. Schade um das nicht gewöhnliche Talent der Tochter! und dennoch hatte ich wenig Freude an ihr, da sie nicht fleißig und ernst genug war. |7| Nota bene: Könnten Sie mir nicht den Artikel von Hanslick über Hänsel u Gretel unter Kreuzband senden? ich hatte ihn, er ist aber so vom vielen Lesen Anderer zerrissen, daß ich ihn so nicht aufheben kann, was ich gern möchte. So schreibt doch Keiner jetzt, wie Der, und, wie ist es mir fast immer aus der Seele geschrieben. Wie Recht hat er wieder hier in Allem, was er sagt. |8| Wie thut es Einem wohl auf Gleichgesinnte zu stoßen <> in dieser traurigen Zeit des Verfalles der Kunst! was hätten wir, wenn nicht Brahms wäre, Er ist der <> Einzige der uns immer wieder mit Neuem, Herrlichen erfreut, <>Balsam träufelt auf das jetzt oft so verwundene Herz. Unsere jungen Componisten werfen nur so um sich mit den Harmonieen ob aufgelöst, ob nicht, das ist ja ganz gleichgültig! je bunter das Durcheinander, desto interressanter! – Gelernt haben Sie fast Alle nicht.
|9| Noch ein halbes Bögelchen muß ich nehmen, vor allem um noch Ihrem lieben Manne auch für seine treuen Wünsche zu danken.
Ach, könnte ich Sie Alle noch ’mal sehen! aber im Reisen bin ich so schwerfällig geworden, verlasse stets mit Angst mein Haus! ein Glück ist es, daß es mir mit dem Ausüben der Kunst nicht so geht, |10| da bin ich nicht ängstlich, haue auch wohl ’mal über die Schnur, <> muthe mir zu Viel zu!
Doch genug! bleiben Sie Alle gesund, und erhalten Sie die treue Gesinnung die Sie so viele Jahre schon getragen,
Ihrer
alten
Clara Schumann.
Marie grüßt herzlich.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Frankfurt am Main
  Empfänger: Fellinger, Maria (443)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 4
Briefwechsel Clara Schumanns mit Maria und Richard Fellinger, Anna Franz geb. Wittgenstein, Max Kalbeck und anderen Korrespondenten in Österreich / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz, Anselm Eber und Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2020
ISBN: 978-3-86846-015-5
312-315

  Standort/Quelle:*) D-Zsch, s: 11802-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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