Frankfurt d. 3 Dec.1895.
Liebes Fräulein Marie,
Ihr lieber Brief im Sommer hat mir eine wahre Freude bereitet, und den¬noch ließ ich so lange Zeit vorübergehen, ehe ich Ihnen dies sage! aber ich kann mit dem besten Willen nicht Alles erledigen, was mir am Herzen liegt, es ist zu |2| viel, und die Kräfte nicht mehr die der Jugend. Leider bin ich auch seit 2 Monaten recht leidend am Magen und damit verbun-denen Catharr, so daß ich mich auch oft zu angegriffen zum Schreiben fühle. Kurz, ich darf wohl hoffen, daß Sie mir ┌nicht┐ als Gleichgültigkeit auslegen, was eben nur in den Verhältnissen lag. Jetzt, seit 4 Wochen, liegt nun auch noch meine Marie an Ischias fest zu Bett, das ist eine große |3| Geduldsprobe für die Arme, und stimmt mich natürlich sehr traurig. So hat eben ein Jedes sein Leid zu tragen, und Sie und Ihre Freundin ja auch, was ich mit herzlicher Theilname [sic] gelesen. Der Verlust von Frau Ben¬demann hat mich schwer getroffen, und ist mir noch immer, als könnte es nicht sein. Sie war mir treueste Helferin zu allen Zeiten, und eben so ja auch ihr Mann. Solche Freunde zu verlieren im Alter ist doppelt hart – sie sind unersetzlich, denn sie |4| haben eine ganze Lebenszeit mit Einem durchlebt, Leid und Freud’ mit Einem getheilt.
Von unserem Leben kann ich Ihnen nicht viel sagen, wir arbeiten, Marie hat ihre Schüler-Classen, und ich bekomme ihre Schüler, genügend vorbereitet dann in meine Classe. Gott sey Dank, haben meine Leiden mich noch nicht am Unterrichten gehindert, ich fühle mich im Gegentheil verjüngt, wenn ich am Clavier sitze, selbst spiele oder lehre. Ob Sie wohl neulich meinen Schüler Leonard Borwick |5| gehört haben? er ist wohl einer der Besten, und hat, wie ich aus Kritiken ersah, großen Er¬folg in Dresden gehabt. Mehrere meiner Schüler concertiren, in England namentlich, und mit viel Erfolg. Miss Davies, Frl Eibenschütz u. A. So gelingt es mir doch noch immer, wenn auch nur im kleinen Raume, zu nüt¬zen. Freilich aber, was ist das jetzt? wo der Sinn für Wahrheit und Schön¬heit ganz abhanden gekommen scheint? |6| Es sieht traurig in der Kunst aus, das werden auch Sie, die Sie so mit ganzem Herzen die Kunst gehegt und gepflegt haben, empfinden! wie spielen die Clavierspieler jetzt, wo ist da Geist und Gemüth?
Doch dies Thema ist gefährlich für mich, ich errege mich stets dabei, und, was nützt es? Es wird wohl auch mal wieder anders kommen, nur erleben wir es nicht.
Jetzt aber, leben Sie wohl, liebe alte Freundin, grüßen Sie ihre liebe Louise, Frau Heydenreich, und glauben Sie stets an die treue Gesinnung
Ihrer Clara Schumann.
[Umschlag]
Fräulein
Marie v. Lindemann
Dresden
23 Ostra-Allée.