23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 14097
Geschrieben am: Sonntag 16.09.1860
 

Kreuznach, den 16. September 1860.
Liebster Johannes,
wie herrlich hast Du mich überrascht! Wie schön Deine Kompositionen – wie bin ich erfreut, daß ich endlich die D moll-Variationen selbst mir spielen kann, wie freundlich, daß Du mir das interessante Werk über Schiller, auf das ich sehr gespannt, sandtest – herzlichen Dank für Alles.
Wo soll ich nun aber anfangen? Wie schwer ist es, schwarz auf weiß sich kurz und klar aussprechen, wenn man so wenig die Ausdrucksweise in der Gewalt hat wie ich, wie erscheint mir das Wort immer so matt gegen das, was ich empfinde. – Das ist so vielseitig, meine Worte so einseitig! Sitzt man beieinander, so kann man sich jeden Ton zeigen, der einem lieb oder nicht lieb, wie anders gemüthlich ist das!
Wie hast Du Dich wieder in den tiefsten Regionen der Kunst bewegt, z. B. in dem Doppelkanon, den ich mit Staunen ansehe, weniger mit Behagen, da er mir doch hier und da steif klingt, wie es in solcher Kunst wohl kaum anders möglich. Das Präludium muß schön klingen, daß aber die Viertel-Bewegung so plötzlich wieder aufhört, stört mich, obgleich allerdings der Wiedereintritt derselben sich dann um so schöner ausnimmt. Der Eintritt des Chors ist wunderschön, aber bei den Worten „wie Gott es fügt“ da wird es harmonisch steif, dann wieder die Stelle im zweiten Teile, „was willst Du sorgen von Morgen auf Morgen[“] – später wird’s wieder schön, auch der Übergang in das erste Präludium, nur tut mir der Baß, c, b, c, weh, wenn ich es auch noch so sehr versuche, das B im Pedal in mir fortklingen zu lassen. Das „Amen“ klingt schön, ist’s aber nicht etwas lang im Verhältnis zum Ganzen? Die Orgel vermittelt übrigens gewiß vieles, was auf dem Klavier trocken erscheint. – Der Choral in E ist aber wundervoll, Bachisch, namentlich am Schluß „der hat g’nug für uns getan“. Das ist eine herrliche Ausweichung, das klingt so wahrhaftig, entzückt mich, aber am Schluß das E im Tenor stört mich, das klingt auf einmal so dick, warum nimmst Du nicht fis? Ich kann die Septime sehr gut entbehren, sie klingt mir hier sogar etwas modern hinein. Schön ist die Fuge, so kunstvoll und wohlklingend dabei (bis auf wenige Stellen). Der durchgehende Choral mit der Fuge jeder einzelnen Strophe erscheint mir ganz neu; nur befriedigt mich nicht ganz, daß kein bestimmtes Motiv das Ganze durchzieht, sondern, wie es eben in der Idee liegt, das eine das andre ablöst, wodurch man am Ende kaum mehr weiß, wie’s angefangen. Beim Buchstaben C zweiter und dritter Takt kann ich mir den Klang nicht angenehm denken, zwei Takte aber vor dem C, da ist eine Fortschreitung im Sopran und Baß, e und d, die mir unerträglich, das klingt doch entschieden wie Oktaven; es fiel mir gleich das erstemal, als ich’s durchging, auf, ebenso, als ich es später dem Woldemar zeigte, Diesem. Dies sind aber nur Einzelheiten, im Ganzen gefällt mir das Stück doch sehr.
Mit dem Wechselgesang bin ich ganz einverstanden, nur der allerletzte Schluß
[Noten]
der ist nicht Johannes Brahms. Das ganze Stück ist doch, namentlich der erste Teil, so eigentümlich bei aller Gefälligkeit, warum am Schluß noch eine Trivialität? Bitte, mache das anders, Du findest es leicht.
Nun aber zur Motette „Schaffe in mir Gott ein rein Herz“, die für mich die Krone von allem. Wie wundervoll das erste Stück gleich mit dem verlängerten Baß, dann das zweite. Schon das schöne klangvolle weiche Motiv, wie interessant der doppelte Kontrapunkt, die Engführungen, Verlängerungen welche Kunst, wie sangbar alles, wie so herrlich muß das klingen! – Das Andante aber will mir nicht recht gefallen, das wird mir durch den Kanon zu trocken, dann aber der Schlußchor wie prachtvoll! Das letzte Allegro läßt nur zu wünschen übrig, daß es länger wäre, schon das frische kräftige Thema, wie das sogleich ins Zeug geht, läßt ein viel ausgeführteres Stück vermuten. Die herrliche Steigerung am Schluß bestätigt nur noch das Gefühl der vorherigen Kürze in mir, und diese schließt mir auch wieder zu kurz ab – bitte, lieber Johannes, mache da einen recht ausgeführten Chor, alles ist da dazu, das frische feurige Motiv, viele prachtvolle Klänge, z. B. wie◊10 die Tenöre über die Alte gehen auf der vorletzten Seite, die man gern noch mal hörte, oder ähnliche – auf der Schlußseite entzückt mich jeder Ton, kurz, ich kann mir nichts wünschen, als 2–3 mal so lang den Chor, und das ganze Stück ist ein Meisterstück in allen Theilen. Was mir auch in diesem Stücke wieder so ganz besonders auffällt, ist die wunderbare fromme Stimmung erst, die Lebenskraft und reine, schönste Begeisterung im Letzten, die einen so ganz durchströmt …
Daß ich Dir die Sachen schon wieder schicken muß, tut mir sehr leid, doch tröste ich mich damit, daß Du sie mir gewiß vorsingen läßt, wenn ich nach Hamburg komme, was doch wohl einmal diesen Winter geschehen wird, und übrigens habe ich sie so genau studiert, namentlich die Motette, daß sie wohl eine gute Weile in mir klingen wird.
Die Variationen sind prächtig gesetzt, ich brauche damit gar nicht umzuspringen, gibt’s auch der Sprünge genug darin. Ich studiere sie mir schon ein.
Den Schiller wollen wir im Oktober (Frl. Leser, die jetzt nächster Tage wohl nach Düsseldorf zurückgeht, und ich) zusammen abends lesen, da bin ich denn wohl auch dort, spiele in Köln usw.
. . . . . . Wie lange ich hier noch bleibe, ist noch immer unbestimmt, da ich meine Freundin aus München wieder erwarte, die nun doch Julie auf ein Jahr mit dorthin nimmt. Für Dein Anerbieten wegen der Brandt danke ich Dir, jedoch wäre das schon wegen Wagners nicht angegangen, die doch alles tun wollten, was ich nur wünschte . . . . .
Daß es eines besonderen Magnetes, um nach Hamburg zu kommen, nicht bedarf, sollte ich wohl kaum erwähnen – wie manches Mal war ich doch schon dort um des Einen halber.
Lachen mußte ich aber über Deine Äußerung von „Unlogischem“ und „Unnötigem“, das ich zuweilen schriebe. Wie Ihr Männer Euch doch dreht und windet, und lieber selbst aller Logik den Rücken kehrt, ehe ihr eine Wahrheit erkennen mögt. Was ich Dir schrieb, war nur in Bezug auf mich, mit Joachim und in schöner Natur lebtest Du ja zwei Monate; konnte ich da nicht mindestens einen von den zweien wünschen und beanspruchen? Daß ich Dich nur einige Tage sah, ist Tatsache, die sich nicht hinwegleugnen läßt. Daß Du aber nach so langem Bummeln nach Hamburg gingst, fand ich ganz recht, wenngleich sich wieder nicht hinwegleugnen läßt, daß, hättest Du mich gern noch mal gesehen, Du über hier leicht hättest zurückgehen können, wodurch Du mir noch eine Freude bereitet hättest. Ich erwähne dies aber nur von wegen der Logik.
Meine Jungen von Bonn wegzunehmen war doch schon meine Idee den ganzen Sommer hindurch, noch ehe mir Joachim das Gute davon bestätigte. Noch weiß ich aber nicht, wohin. Es ist recht schwer, bis man das Rechte gefunden. Sie müssen nun doch mal beide tüchtig ans Lernen, so in diesem englischen Komfort kann es nicht fortgehen.
. . . . . . Die Blumen der lieben Elise haben mich sehr erfreut – die waren gewiß von ihren Stöcken? Danke ihr wie Deiner lieben Mutter herzlichst, und grüße beide ebenso.
Heute vor 8 Tagen hörte ich recht schön Quartett bei Joachim – es war auf der Durchreise von Berlin nach Düsseldorf.
Er hat sich seine Wohnung recht gemütlich eingerichtet, wunderschön alle Stuben mit einem Teppich durchzogen.
Eben kommt der Woldemar und bittet mich noch mal, Dich herzlich zu grüßen und Dir zu sagen, wie sehr erfreut er über Deine Sachen, auch die Harfenlieder sei.
Härtels sind mir unbegreiflich – biete ihnen doch ja nie mehr etwas an. Ich habe ihnen viel mehr Urteil und künstlerische Gesinnung zugetraut, als sie beweisen.
Ich bemerke, daß ich schwatze, Du hast’s vielleicht schon längst? So denn zum Ende noch einmal tausend Dank für alles, was Du mir gesandt. Daß ich es schon wieder fortschicken soll, will mir gar nicht in den Sinn, doch will ich mich Dir durch die schnelle Erfüllung Deines Wunsches dankbar beweisen.
Schreibe mir, was Du zu meiner Ansicht wegen des Schlußchor der Motette meinst, ob ich überhaupt in dem einen oder anderen recht habe oder nicht?
Schreibe, bitte, recht bald, viel und lieb, wie es mich, Du weißt es ja, so innig erfreut.
Gedenke Deiner
getreuen Freundin
Clara.
Alle hier, jung und alt, grüßen sehr.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Kreuznach
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Hamburg
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
720-725

  Standort/Quelle:*) unbekannt, vgl. Druck
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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