23.01.2024

Briefe



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ID: 14098
Geschrieben am: Freitag 05.10.1860
 

Godesberg, den 5. Oktober 1860.
Liebster Johannes,
länger, als es sollte, ist’s geworden, ehe ich Dir schreiben konnte. Erst habe ich, so gar lange, auf Deinen Brief gewartet, dann, seit 8 Tagen jetzt, bin ich so angestrengt mit Schreiben, daß ich mich wirklich ganz elend davon fühle. Heute ist dies der 9. Brief, alle in Geschäften, zu diesem habe ich mir nun eine ruhige Nachtstunde genommen, sonst käme ich wieder nicht dazu. Du weißt, ich gebe in Dresden drei Soireen, desgleichen drei in Berlin und eine in Leipzig, diese nun alle schriftlich zu arrangieren, das ist keine Kleinigkeit, und es ruht ja immer alles allein auf mir!
. . . . . . Willst Du mir wohl den Gefallen tun, mir die Stimmen zu den Harfenliedern zu schicken? Ich hätte sie so gern jetzt, weil ich sehr wahrscheinlich Gelegenheit in Dresden oder Berlin finde, sie singen zu lassen. Du kannst sie ja immer gleich wieder haben. Warum kannst Du Dir denn aber Deine Motette nicht im Grädnerschen Verein singen lassen? Dem muß das doch selbst Freude machen?
Du hast mich wohl ein bißchen ausgelacht wegen meiner Aussetzungen an der Choral-Motette? Deine Antwort kommt mir so etwas ironisch vor – „ein Motivchen zu ’ner Fuge“ wie häßlich!
Darauf käme allenfalls ein süßes Schulmeisterlein. Du bist ein rechter Schlingel, erst soll man alles sagen, was man denkt, und dann kriegt man so einen Nasenstüber hinterdrein. Ich lasse mich aber doch nicht irren, ein Choral in solchen Pausen von Strophe zu Strophe ist mir ebenso ungenießbar, als sollte ich ein Gedicht so lesen, und wäre es das Schönste. Nun freilich, ich bin auch kein Musikgelehrter! –
Könnte ich doch die Motetten, namentlich die in G hören! Daß die häufige Wiederholung der Worte in einer größeren Aufführung hindert, wundert mich, denn bei religiösen Worten ist man ja durch Bach, Händel usw. daran gewöhnt, da geht es ja seitenlang auf immer denselben Worten fort, über der herrlichen Musik aber fühlt man diese Monotonie nicht mehr. Ich wollte, Du besännest Dich noch anders.
Härtels und Simrocks Bedenken wegen der Harfenlieder fände ich ganz richtig, wären sie nicht so leicht, daß ja ein jeder Musiker sich die Harfe und Hörner auf dem Klavier spielen kann. Sind das Umstandsmenschen!
Die Jungen sehe ich oft, sie sind hier so nett gegen sie, daß ich sie gern kommen lasse. Es sind gar liebe Leute, die Wendelsstadts.
Mit Breusing hatte ich neulich eine lange Unterredung, wobei ich mich nach Durchsicht ihrer Bücher überzeugen mußte, daß sie doch mehr lernen, als ich dachte. Dann gestand er mir manches, ihre körperliche Entwicklung Förderndes, zu, so daß ich mich doch mit dem Fortnehmen nicht übereilen will. Das viele Wechseln ist auch so schlimm.
Elise und Julie sind jetzt nun an ihrem Bestimmungsorte – schwer sind mir diese Trennungen geworden, auch ihnen! Julie schlief die ganze Nacht vorher nicht und weinte immer und immer. Wie tat mir das Herz weh dabei. Ich hoffe aber, es ist zu beider Glück!
Jetzt mein lieber Johannes, will ich Dir Lebewohl sagen . . . . . Grüße die lieben Deinen, auch Deinen Frauenchor, denke an mich, wenn’s recht schön klingt – ach, könnte ich so zuweilen zufällig unter Euch, doch lieber noch bei Dir sein.
Leb wohl! Gedenke liebend
Deiner getreuen Freundin
Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Godesberg
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Hamburg
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
726ff.

  Standort/Quelle:*) unbekannt, vgl. Druck
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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