Liebe theure Frau Schumann!
Sehr von Herzen nehme ich Theil an dem großen Kummer, den Sie wieder erlebt. Wie mag Sie das Andenken an den vielgeprüften Sohn erfüllen! Sie dürfen sich aber sagen in mütterlicher Treue sein hartes Loos bis zum letzten Augenblick gemildert zu haben; und Sie werden die schweren Pflichten welche Ihnen geblieben sind, in gewohnter Güte und starken Sinns erfüllen, liebe, edle Frau! „Die Liebe zu denen, die vor uns hinscheiden, wie zu denen, die wir hier hinterlassen, ist wohl sicher das Bleibende.“ – Ich habe Sie vorgestern recht herbeigewünscht, als wir in der Schule den Händel’schen Israel aufführten, dessen Chöre mich wieder in ihrer Einfachheit und Kraft wahrhaft erquickten. Wenn ich von Einfachheit spreche, so geschieht es weil die Größe der Empfindung sie bei allem kunstreichen Gewebe des oft achtstimmigen Satzes <sie> so erscheinen läßt. Das steht alles wie gemeißelt da! Nun Sie kennen das ja. Meine Marie ist seit einigen Tagen bei mir; sie sang mir neulich in Düsseldorf die Fidelio-Arie wirklich sehr nach meinem Wunsch vor, und ich darf hoffen an ihrem künstlerischen Wachsthum Freude zu erleben; obwohl ich mir manchmal wie die Glucke bei den Enten vorkomme, da sie von dem Wagner-Taumel, der die Opernsänger erfaßt, auch fortgerissen ist. Dagegen ist eben nicht anzukämpfen, am wenigsten durch schimpfen! Wenn Sie in Berchtesgaden sind darf sie Ihnen vielleicht etwas vorsingen. Ich rechne sicher auf ein gutes Wiedersehen in dem schönen Alpenland; auch „ohne Herzogenbergs!“ Diese lieben Freunde wollen übermorgen nach Nauheim, da sie es benutzen wollen, daß es ihr seit einigen Tagen etwas besser geht. Hielte es nur an –. Seien Sie, verehrte Frau Schumann mit den lieben Töchtern innigst von mir gegrüßt, der ich in treuer Freundschaft verbleibe
Ihr alter
Joseph Joachim
Bendler Str. 17. d. 5. Juni 1891.
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