Leipzig 5 Januar 1895
Karl-Tauchnitzstraße 39.
Verehrte liebe Frau Schumann!
Durch ein unglückliches Versehen ist wie ich fürchte unser Neujahrstelegramm nicht an Sie abgegangen. Die Unterzeichner waren außer Emma, m. Mutter, Schwester und mir unsere lieben Freunde u. Gäste Frau v. Holstein, Helene Hauptmann, Prof. Joachim, Herzogenberg, Vater u. Sohn Röntgen! Sie können glauben daß wir Ihrer viel und herzlichst gedacht u. Sie im Stillen herbei gewünscht haben. Möchte Ihnen das neue Jahr Sonnenschein bringen, überhaupt alles Gute was Sie von ihm erhoffen mögen. |2| Und uns gönne es das Glück, Zeugen Ihres Wohlergehens und Ihres anhaltenden segensreichen Wirkens für die Kunst zu bleiben! Ich weiß nicht ob ich Ihnen für Ihren letzten lieben Brief gedankt habe, der so viel Interessantes enthielt. Die letzten 3 Monate waren für mich durch allerhand Zusammentreffen dermaßen mit verschiedenartigster Arbeit überhäuft, daß ich fürchte manche Pflicht versäumt zu haben. Leider habe ich auch nicht die gute Gewohnheit meinem unzuverlässigen Gedächtniß durch Führung eines Correspondenzbuchs nach zu helfen. So bitte ich denn um Ihre gütige Nachsicht.
Ihre Mittheilungen über |3| die neuen Sonaten von Brahms steigerten begreiflicherweise unser Verlangen nach direkter Bekanntschaft damit. Leider wird es damit aber noch gute Weile haben. Brahms wird sie zwar gegen Ende Januar hier spielen. Dann sind wir aber längst wieder in Utrecht. Und nach Holland scheint er nicht mehr kommen zu wollen. Da auch von Drucken soviel ich weiß nichts verlautet, werden wir uns in Geduld üben müssen. Hier hatte ich Gelegenheit (etwas spät) mit den neusten „Epoche“ machenden Erscheinungen der Oper bekannt zu werden: Cavalleria und Hänsel u. Grethel. Ersteres erschien mir musikalisch gemein, mehr für Circus und Café chantant – trotz des tragischen Stoffs. |4| Bei Hänsel u. Gretel kam ich über den Eindruck eines unförmlich großen Kindes nicht weg. Ein Richterscher Holzschnitt in Lebensgröße in Oel gemalt! Bei einer Menge reizvoller, anmuthiger Einzelheiten stört mich doch die Wagnersche Geschwätzigkeit des Orchesters, namentlich im letzten Aufzug. Das ist aber ja das Princip, auf dem jetzt alle reiten. Die Ruhe muß wie aus dem Leben so aus der Kunst verjagt werden. Daß höchste Leidenschaft, stürmischstes dramatisches Leben in künstlerischer, musikalischer Verköperung doch beruhigend wirken können durch Schönheit und Klarheit, scheint Niemand mehr zu glauben und – zu wünschen! |5| Das wurde Einem wieder recht klar beim Anhören der C-moll Symphonie im Neujahrsconcert. Solche Werke sollte man sich immer als Maßstab vorhalten. In diesem einen Werke scheint mir die ganze Weisheit der Instrumentalmusik die herrlichste und handgreiflichste Verkörperung gefunden zu haben. Warum hat man hier auch an den Stellen höchster Aufregung und leidenschaftlichsten Stürmens doch das Gefühl beglückendster Ruhe? Doch wohl weil man fühlt daß hier der Ausdruck durch das Gesetz gebändigt, in den Schranken der Schönheit ge-|6|halten ist durch die Macht des Genies!
Großen Genuß hatten wir wiederum durch Beethovens Geigenconcert – auch so ein Werk, wo alle Kritik verstummt und man nur bewundernd genießen kann. Ob Joachim jemals einen Nachfolger finden wird? Einstweilen suchen wir ihn noch vergeblich. Dem Einen fehlt dies, dem Andern das. Wie unendlich Vieles muß zusammenkommen damit das wirklich große Kunstwerk entsteht! Wenn man den Musikzeitungen glauben wollte, so wären wir freilich noch nie so reich an neuen Schöpfun-|7|gen ersten Ranges und Meistern der Kunst gewesen wie jetzt. Kein neues Opus erscheint oder es wird als unerhörtes Meisterwerk von der Clique ausposaunt, um sich gar bald als ein recht bescheidenes Produkt unbescheidenster Anmaßung zu entlarven. Und mit den Virtuosen, speciell auf dem Clavier, gehts nicht anders. Liest man was z. B. über d’Albert geschrieben wird, so möchte man sich beklagen, daß man so selten Gelegenheit hat dessen „göttlichen Offenbarungen“ am Flügel beizuwohnen. Hört man ihn dann aber, wie wir neulich in Utrecht, dann zieht man vielleicht den Hut ab vor dem technischen Können u. |8| vielleicht auch vor dem ernsthaften Wollen, aber das Herz bleibt kühl, die Seele lechzt nach dem was allein Genüge giebt, Innerlichkeit, Fülle poetischen Empfindens. Da war Rubinstein doch ein ganz andrer Künstler, wie verschieden er auch durch sein slawisches Blut von unserem Ideale noch sein mochte! –
Nächsten Donnerstag hören wir die B-dur Symphonie von R. Sch. Das wird hoffentlich ein schöner letzter Eindruck zum Abschied von Leipzig! Am 15. sind wir in Utrecht zurück. Leider habe ich hier so vielerlei – auch amtlich, in Vormundschaftsangelegenheiten – zu thun, daß meine stille Hoffnung ein paar Tage zu einem Umweg über Frankfurt zu erübrigen, sich nicht wird verwirklichen lassen. So nehmen Sie denn diesen schriftlichen Gruß mit den lieben Ihrigen, aus meinem und der Meinen Namen u. bleiben Sie freundschaftlich gesinnt Ihrem treu ergebenen
ThW Engelmann
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