Paris. 6 July. 1860
Liebe Frau Schumann!
Heute Ab. reise ich endlich ab; ich bekam Gestern früh einen Brief von meinen Schwestern in welchem ich las daß die älteste (Cécile) Montag nach Besançon in’s Kloster reist. Das Gute Kind bittet um Verzeihung uns alle geärgert sie hätte besser „gekränkt“, „betrübt“ gesagt. zu haben, meint aber wir würden später, wenn wir sie ruhig u glücklich sehn, ganz mit ihrem Entschluß einstimmen; sie fühlt sich zu Hause u in der Welt nicht glücklich, mit einem Wort, wie Sie sehr |2| richtig bemerkten: Sie hat nicht geliebt u will sich nun dem himmlischen Bräutigam hingeben u sich seinen Bevorzugten (den Armen nämlich) ganz widmen. Mädchen Schwärmerey! Uebertriebene Anschauungen, Ueberspanntheit! Anders kann man diese Ansichten u Gefühle nicht charakterisiren! Bleiben wir in der Mittelstraße, vereinigen wir Gefühl u Verstand, u wir werden uns ruhig u glücklich fühlen! Und nur <d>in dieser wunderbaren economie, nur in diesem Gleichgewicht besteht wahres Glück! Zu viel Poesie, zu viel Schwärmerei, zu viel Gefühl |3| ist eben so schädlich unsrer Ruhe als zu viel Verstand, zu viel Berechnungsgeist unserem Glücke schaden. Ein Naturforscher sagt: „Wer zu schnell geht, muß alsbald ebenso langsam gehen. Wer sich unmäßig in Bewegung setzt, muß auch eben so sehr wieder ruhen. Wer sich in 1 Tage für 2 T. anstrengt, in Handlung u Empfindung, muss dafür auch einen Tag länger Unthätigkeit u Stumpfheit erfahren. – – – – – – Je lebhafter eine Empfindung ist, um so schneller erlischt sie. Je heftiger ein Wille, eine Begierde ist, um so leichter erkalten sie. – – – – –– – – Je freier u gewaltiger die Selbstheit sich behaupten kann, desto tiefer wird auch die Hingebung an’s allgemeine Leben möglich u in ihr selbst gefordert.“ Das führt Feuchtersleben in seiner „Diätetik der Seele“ an u ist eine vortreffliche citation. Doch genug! zu viel ist zu viel u mein Brief soll nicht Diätetik der Seele seyn sondern nur sagen wie oft ich an Sie denke u Sie recht |4| ruhig u glücklich sehn möchte. Vielleicht gerade weil ich es selbst noch nicht habe werden können, empfinde ich um so lebhafter im Voraus das Glück es zu seyn u wünsche es Ihnen von Herzen. Gestern Ab. nach einem ermüdenden Tage wo ich fünfzehn verschiedene Gänge u Commissionen gemacht hatte gieng ich in’s Theatre français u hörte ein allerliebstes Stück: „Le cœur & la dot[“] von Mallefille, u allerliebst vorgetragen, Regnier, Got u Melle Augustine Brohan spielten u sprachen herrlich. Den Conversations’ ton haben nur die Franzosen in diesem Grade von Vollkommenheit u Natürlichkeit. Nun fällt mir aber ein daß ich nicht gesagt daß ich über Colmar nach
Kreuznach reisen werde um eben meine gute Schwester noch zu sehn.
Dienstag ueber hoffe ich Sie in Ihrer Wohnung zu begrüßen oder Sie im Kahne spaziren zu fahren? Das Wetter ist herrlich – Lamartine’s Werk bekommen wir in der Leihbibliothek; Moliere, Gil Blas u Beaumarchais bringe ich mit; auch ein dictionnaire. wär ich direct gereist so hatte ich eine Melone mitgebracht, aber 4 Tage darf sie nicht unter Weg seyn. Adieu, behüt’ Sie Gott u alle die Ihrigen. Ihr ganz ergebener
J Stockhausen
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