Bern, d. 2. Sept. 1895.
Hochverehrte Frau!
Über Samstag u. Sonntag hatte ich Gäste, die bei mir wohnten, so daß ich erst heute früh dazu gelangte, die Zeitungsnummern mit dem Artikel über Anselm Feuerbach heranzusuchen; ich bitte Sie, dieselben zu behalten. Daß aber Herr Brahms |2| Ihnen meine kleine Arbeit zum lesen empfahl, hat mich nicht nur gefreut, sondern auch gewundert. Denn eigentlich hatte ich von seiner Seite ein ziemliches Ungewitter mit Donner u. Blitz erwartet, weil, bei aller meiner Ehrfurcht für den ernsten Künstlerwillen Feuerbachs, meine Ansicht über das von ihm Erreichte keine zuversichtliche ist u. ich ┌doch┐ weiß, wie hoch Herr Brahms die Leistungen Feuerbachs anschlägt. Da er mir |3| aber Allgeyers Buch empfohlen hatte, hielt ich mich verpflichtet, ihm meine abweichende Meinung nicht zu verbergen.
Bei diesem wundervollen Wetter ist hoffentlich unser Berner Land noch recht lange im Stand, <s>Sie zu fesseln. Frankfurt ist jetzt gewiß schrecklich heiß; selbst in unserm kühleren Bern können wir nur ┌mittels┐ Durchzug auf den Abend eine Zimmertemperatur erhalten, die angenehmes Schlafen ermöglicht. Nach Interlaken |4| kommen wir in diesem Sommer nicht mehr; unsere letzte kleine Reise geht nächsten Samstag u. Sonntag nach Stein a/Rh., wo mein Schwiegersohn Professor Dr. Vetter, dem das dortige mittelalterliche Kloster gehört, eine prächtige Ausstellung schöner Alterthümer veranstaltet hat, die auch Ihnen würde gefallen haben. Aber Sie werden wohl nicht mit der Schwarzwaldbahn nach Deutschland zurückkehren? sonst läge Stein a/Rh. dicht am Wege.
Mit den besten Grüßen auch von meiner l. Frau u. an Ihre Fräulein Töchter
In herzlicher Verehrung
Ihr ergebener
J. V. Widmann
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