23.01.2024

Briefe



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ID: 19809
Geschrieben am: Donnerstag 05.12.1867
 

Verehrte Freundin.
Ich musste gestern nach Baden-Baden, um dort die – – Reise nach China!! zu dirigiren; so komme ich erst heute dazu, Ihnen über den Erfolg der Oper zu berichten. Wie habe ich Sie während der Aufführung und nach derselben, als ich mit einigen Gleichgesinnten zusammensaß, herbeigesehnt! Daß Sie nicht anwesend waren, ist aber auch die einzige Dissonanz, die mir in jenen herrlichen Tag hineinklang. Noch bin ich, trotzdem ich 2 Nächte geschlafen und trotz Reise nach China wie im Rausch; die Melodien schwirren mir kreuz und quer im Kopfe herum, ich rede und denke nichts anderes als Genoveva. Und so geht es Allen, die ein musikalisches Herz auf dem rechten Flecke haben. Gott sei Dank, deren Anzahl ist selbst hier keine kleine. Ich habe keinen Menschen gesprochen, auf dessen Urtheil ich etwas halte, der nicht wie ich, erschüttert gewesen wäre von dem tiefen, ungeheuren Eindruck des Werkes, der nicht den Wunsch hätte, immer tiefer hineinzudringen um sich alles Bedeutende und Schöne, das sich bei einmaligem Hören nur ahnen lässt, zum Bewusstsein zu bringen. Die Wenn’s und Aber’s, wenn es deren überhaupt gäbe, verschwinden in nebelgrauer Ferne; wir stehen vor einem Kunstwerke, wie seit Weber’s Tode kein nur entfernt hinreichendes geschaffen worden ist und begreifen nicht, wie sich die Deutsche Nation eine zwanzigjährige Pause zwischen der ersten und zweiten Aufführung (die bei der Tonkünstlerversammlung mag ich nicht rechnen) gefallen lassen konnte. Für mich ist der dritte Dezember nicht nur als der Culminationspunkt meiner kapellmeisterlichen Thätigkeit, sondern auch als ein Tag des intensivsten Genusses, wie ich mich keines zweiten erinnere, für alle Zeit in meinem Herzen eingegraben, und ich hege ein inniges Dankesgefühl, daß es mir vergönnt war, zu der Wiederbelebung der Oper ein Kleines beizutragen. Daß sie nun über alle anständigen deutschen Bühnen gehen wird, ist mir kein Zweifel. Hier ist sie eingebürgert! Was soll ich Ihnen von der Aufführung selbst sagen? Fragen Sie andere, unbetheiligte Leute und ich glaube, Sie werden Ihnen sagen, daß sie eine – gelinde gesagt – würdige war. Wenn ich mir auch einen Golo denken kann, der die dramatischen Pointen mehr zur Geltung bringen würde und eine Genoveva deren Stimme als solche sympathischer wirken könnte, und einen Kapellmeister, der das Ganze noch ganz anders zu interpretiren verstände – so ist es mir trotz alledem nicht bange vor Ihrer Hierherkunft und Ihrer Kritik. Was das große Publikum, dieser Rattenkönig, dazu gesagt hat, weiß ich noch nicht; es ist Sitte, daß wenn der Hof empfangen wird, am Abend nicht mehr applaudirt wird; als nach der Ouvertüre Einige versuchten zu applaudiren, wurde sofort Ruhe geboten. Indessen das ist auch gleichgültig – der Bien muß. Alle einigermaßen Gebildeten und Verständigen sind eines Sinnes. Nach der Vorstellung war ich mit Allgeyer, Will, dem sehr musicalischen Director des Lyceums, Wendt[,] und einigen Anderen, im Erbprinzen zusammen; da war des Schwärmens kein Ende. Wir hätten Ihnen sofort telegraphirt, wenn wir nicht gefürchtet hätten, Sie im Schlafe zu stören. Gestern in Baden war ich bei Frau Rubinstein8 zum Mittagessen geladen, da waren noch die älteste Tochter von Frau Viardot und eine sehr musikalische und nette Russin, Frau Demidoff, die alle zur Genoveva hier gewesen waren und die so entzückt waren, daß ich Ihnen die ganze Oper von A – Z nach Tisch noch einmal vorspielen musste. Sonntag kommen sie wieder hierher. Kurz – meine kühnsten Erwartungen von dem Erfolge sind übertroffen worden! – Auch von Frankfurt war Niemand da. Elise kommt Sonntag. – – Als ich gestern von Baden heimkam, fand ich beiliegenden Brief, den ich Ihnen als Zeichen unbegrenzten Vertrauens mittheile und den ich Sie recht bald zurückzuschicken bitte. (Ich habe ihr Ihren Geburtstagsbrief gezeigt; darauf bezieht sich die betreffende Stelle).
Entschuldigen Sie, daß ich so viel ausgestrichen habe und daß der Brief überhaupt so – unordentlich aussieht; ich bin den ganzen Morgen von Besuchen gestört worden und möchte, daß er noch mit dem 12 Uhr Zug abgehe. Meinen letzten Brief zerreißen Sie doch! Es war dumm von mir, daß ich nicht die Aufführung abgewartet habe; wenn ich auch die Bedenken als solche heute noch empfinde, so treten sie doch gegenüber dem Ganzen so zurück, daß ich wünschte, sie gar nicht berührt zu haben. –
Lassen Sie recht bald von sich hören, daß auch Sie sich mit uns freuen!
In herzlicher Freundschaft
Ihr
Hermann Levi.

Carlsruhe 5. Dez. 1867.

  Absender: Levi, Hermann (941)
  Absendeort: Karlsruhe
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 5
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Franz Brendel, Hermann Levi, Franz Liszt, Richard Pohl und Richard Wagner / Editionsleitung: Thomas Synofzik, Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik, Axel Schröter und Klaus Döge / Köln: Verlag Dohr / Erschienen: 2014
ISBN: 978-3-86846-016-2
531-534

  Standort/Quelle:*) D-B ? Abschrift: D-Zsch, s: 10623,26-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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