23.01.2024

Briefe



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ID: 19888
Geschrieben am: Samstag 22.02.1879
 

Liebe Frau Schumann!
Ich habe einige Tage gezögert, Ihnen zu schreiben; gerade in Fällen, welchen mir nahe gehen und mich unaufhörlich beschäftigen, hält mich ein eigenthümliches Gefühl ab, meine Theilnahme durch irgendwelche Äusserung zu bethätigen: auch wenn ich in diesen Tagen mit Ihnen zusammengewesen wäre, hätte ich Ihnen wohl nur still die Hand gedrückt, und – Nichts gesagt. Was liesse sich auch sagen! Ich kenne Ihre starke Natur, weiß, was Sie schon getragen haben, und weiß auch, daß Sie dieser letzten schweren Prüfung seit lange gefaßten Herzens entgegengesehen haben; da wäre es vermessen, wollte Freundeszuspruch zu lindern und zu trösten versuchen. Gewiß ist, was Sie jetzt leiden, ein Kleines gegen jene Zustände des Hoffens, der Enttäuschung, des Grames und Mitleidens, unter deren Banne Sie Alle seit so langer Zeit gelebt und gelitten haben; gewiß empfinden Sie die Erlösung des Aermsten auch wie eine eigene Befreiung, – wie wenn man nach langem Gepresstsein wieder einmal tief, tief Athem holt, – ist es auch noch nicht aus freier Brust, so ist es doch wieder ein Athmen – –
Sie wissen, welche Erinnerungen in mir aufsteigen; alle grausigen Phasen dieser Krankheit stehen mir heute noch in entsetzlicher Lebendigkeit vor Augen; wenn Sie das Tagesgeräusch verscheucht, so drängen sie sich im Traume zu – und fragt man nach dem Grunde von dem Allem, so wissen Weise und Thoren keine Antwort, und immer nur ist der Mensch auf sich selbst gestellt, und muß sich mit dem, was die Natur ihm an Willen, Charakter oder Talenten mitgegeben, herauswinden, so gut es geht –.
Ich werde das Andenken des lieben Menschen allezeit hoch in Ehren halten. Darf ich Ihnen wohl die Bitte aussprechen, mir irgend ein kleines äusseres Gedenkzeichen, ein Buch, in dem er viel gelesen, oder ein Geräthe, das er viel benutzt hat, zu schicken? Auch ein Bild möchte ich gerne haben.
Ich drücke Ihnen und Ihren Töchtern aus vollem, traurigem Herzen die Hand, und grüsse Sie als Ihr
getreuer
Hermann Levi.

München 22.2.79.

  Absender: Levi, Hermann (941)
  Absendeort:
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 5
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Franz Brendel, Hermann Levi, Franz Liszt, Richard Pohl und Richard Wagner / Editionsleitung: Thomas Synofzik, Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik, Axel Schröter und Klaus Döge / Köln: Verlag Dohr / Erschienen: 2014
ISBN: 978-3-86846-016-2
786f.

  Standort/Quelle:*) D-Zsch, s: 10623,104-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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