23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 22423
Geschrieben am: Dienstag 15.08.1854
 

Esslingen, d. 15t. Aug. 54.
Verehrte Frau,
Auf der ganzen Reise bin ich noch nicht so recht ungebunden froh gewesen, wie es nöthig ist auf einer Fußtour, u. wie ich es sonst bin.
Jeden Augenblick könnte ich umkehren u. würde diesen Sommer nicht wieder in Versuchung kommen, Ddf. zu verlassen.
Das lebendige u erhebende Zusammensein, u. musiciren mit Ihnen, die Nachrichten von Ihrem geliebten Mann, ach, wie kann ich das auch nur kurze Zeit entbehren; Man sollte nicht reisen, wenn man so fest an einem Ort hängt, wie ich jetzt an Ddf.
Ich will Ihnen von meiner Reise erzählen: In Heidelberg kam ich Sonnabend spät an, |2| Ueber die herrlichen Schloßruinen möchte ich lieber mit Ihnen recht lange sprechen.
Ich suchte das Haus, wo Ihr Gemahl als Student wohnte. Der Sonntagfeier wegen waren die Läden verschlossen, weshalb ich mich mit Vermuthungen begnügen mußte.
Schon Mittags ging ich fort von H. um nur recht bald mitten in der Welt zu sein, u. die Sehnsucht zu verlieren.
Bis Heilbronn ging ich zu Fuß am Neckar, sah unterwegs viel Herrliches z. B. das Schwalbennest, Hornberg etc. Auch hatte ich das schönste Wetter bis Heute, wo es stark regnete.
In Heilbronn hatte ich große Kämpfe zu bestehen; Ich wollte rasch nach Ulm u. weiter u. wollte umkehren.
Ich habe oft Streit mit mir, das heißt, Kreisler u. Brahms streiten sich.
|3| Aber sonst hat jeder seine entschiedene Meinung und ficht die durch. Diesmal jedoch waren sie Beide ganz confus, Keiner wußte, was er wollte, höchst possierlich wars anzusehen. Uebrigens standen mir fast die Thränen in den Augen.
Jetzt bin ich weiter, schon in Esslingen pr. Eisenbahn u. schreibe an Sie, während etwas Eichendorff losgelassen ist: dunkle Mitternacht, die Brunnen verschlafen rauschen, verworrne Stimmen u. tiefe Wehmuth im Herzen.
Ich muß die Feder oft aus der Hand legen, weil mich der Gedanke immer übermannt: ich könnte ja umkehren u. die Wälder u. Burgen lassen wo sie sind!
Zu Ihrem Besten will ich jedoch wünschen, daß ich Sie erst in 3 Wochen wiedersehe, ich habe viel Schlimmes von dem zu kurzen Gebrauch der Seebäder gehört, ich hoffe sehr, Ihre Freundinnen |4| halten Sie mindestens 3 Wochen fest.
Noch will ich Ihnen erzählen, daß Hr. Grimm auch mitgereist ist; Nachdem ich ihm unsern gemeinsamen Kassenbestand u. die ungefähren Kosten der Reise erklärt hatte, entschloß er sich kurz. In Schlangenbad besucht er erst – sehr liebe Freunde, dann kommt er nach.
Ich werde diesen Brief erst in Ulm besorgen können, da die Eisenbahn sehr früh fährt.
Wie freue ich mich auf den Brief von Ihnen! Nach dem 20ten denke ich wieder in Heidelberg zu sein. Wenn Sie mir <bis> dahin (poste rest.) schreiben könnten wann ungefähr Sie nach Ddf zurückk<eh>ämen?
Ich bin wohl sehr unbescheiden, aber vielleicht giebt es ja Wichtiges zu schreiben, vielleicht, finde ich keinen Brief in Ulm?
Grüßen Sie, ich bitte, Frl. Reichmann, Leser u. Jungé recht herzlich von mir u. leben Sie recht, recht wohl.
Ihr
Johannes Brahms
(Zum 12ten, 13ten u. 14ten habe ich Ihnen 1 000 Grüße gesandt.)

  Absender: Brahms, Johannes (246)
  Absendeort: Esslingen
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
Empfangsort: Ostende
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
183-186

  Standort/Quelle:*) D-B: Mus. Nachl. K. Schumann 7,4
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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