23.01.2024

Briefe



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ID: 23095
Geschrieben am: Donnerstag 15.03.1866
 

Pest, den 15. März 1866.
Ich sehe schon, daß ich, aller nötigen Vorsicht trotzend, die Feder ergreifen muß, will ich ’mal wieder von Dir, lieber Johannes, hören. Zu diktieren, wie ich es jetzt immer tue, kann ich mich an Dich so schwer entschließen, und so verschob ich es von Tag zu Tag – nun wird es mir aber doch gar zu lang, daß ich nichts von Dir weiß, freilich, Dir scheint es nicht ebenso zu gehen, sonst hättest Du wohl ’mal von Dir hören lassen! Du führst ein behaglich Leben, während ich vom Morgen zum Abend gehetzt bin, und eigentlich in Wien, von wo ich vorgestern abgereist bin, nur die Stunden, wo ich im Burgtheater saß, ruhige nennen kann. Das waren dann aber auch herrliche Stunden, die ich sobald nicht vergesse.
Sonst ist es mir in Wien vortrefflich ergangen, ich habe 6 volle Konzerte gegeben und wurde im letzten mit einer Wärme von seiten des Publikums entlassen, die mich wahrhaft rührte – daß ein Publikum mich rührt, passiert mir eben nicht leicht. Nur eines hat mich bei den Konzerten verstimmt, daß ich kein größeres Ensemblestück von Dir spielen konnte, doch nach dem Benehmen der Herren war es unmöglich, und Deine Händel- oder Hexenvariationen, die ich mehrmals aufs Programm gesetzt, mußte ich immer wieder aufgeben, weil ich fortwährend an Schmerzen in den Handmuskeln litt, die sich nach so großer Anstrengung so vermehrten, daß ich riskieren mußte, das Konzert nicht durchbringen zu können, wenn ich all meine Kräfte an ein Werk setzte. So wurde mir denn ein Lieblingswunsch, gerade in Wien recht tüchtig von Dir zu spielen, für diesmal vereitelt. Einmal spielte ich 2 Balladen, von denen ich das Intermezzo wiederholen mußte, doch das sind ja Kleinigkeiten im Verhältnis zu anderem. Wäre nur Laub dagewesen – der wäre gewiß bereitwillig zu allem gewesen.
Vom Karneval habe ich nichts zu sehen bekommen, da Du nicht da warst. Aber Deine Freunde, namentlich Flatz, habe ich viel gesehen. Dort war ich immer sehr gern, und da war auch immer Lewinski, der uns dann herrlich vorlas. Ihn finde ich außerordentlich vorgeschritten, und einige Rollen, namentlich die des Nathan, werde ich nie vergessen! – Schade, daß Ihr Euch nie näher gekommen seid, es gibt doch so wenig außerordentliche Menschen, daß man die wenigen dann doch so gern sich in näherem Verkehr dächte.
. . . . Von Drathschmiedts soll ich Dich freundlichst grüßen – das sind prächtige Menschen, das haben sie wieder an mir bewiesen, denn sie haben mir wirklich meine vier Pfähle heimatlich gemacht. Seit gestern sind wir hier und empfinden die Einsamkeit wahrhaft drückend, der Abstand ist gar zu plötzlich! Ich kenne fast niemand hier, und Brand ist krank, Joachims Schwester auf dem Lande. Ich hatte gestern Konzert, es war drückend voll, Sonntag gebe ich das zweite. Dann werde ich nach Linz gehen und denke bis zum 23. wieder in Wien zu sein.
Du wirst erstaunen, zu hören, daß ich meinen Plan nach England für dieses Jahr aufgegeben habe. Ich leide nämlich an der Leber, und hat sich dies Leiden diesen Winter so gesteigert, daß der Arzt in Düsseldorf es mir zur Gewissenssache machte, daß ich im Frühjahr (spätestens Ende Mai) eine Kur in Karlsbad oder Kissingen gebrauchen müsse. Da ich nun in Wien so lange aufgehalten worden bin, so käme ich jetzt erst nach Ostern nach London, und blieben mir für England nur 5–6 Wochen; das verlohnt sich dort nicht und würde nur eine halbe Sache, so entschloß ich mich denn vor 8 Tagen und gab es auf. Nun nehme ich aber auch noch mit, was sich mir hier herum bietet, gehe also nach den Osterfeiertagen nach Graz und Triest und, wenn es nicht zu kostspielig, von da über Venedig und Mailand durch die Schweiz nach Düsseldorf zum Musikfest.
Nun kennst Du alle meine Pläne, laß mich nun auch die Deinen wissen. Meine Adresse bleibt bis zum 2. Osterfeiertag: Wien, Schottenhof (Stadt), 6. Stiege, 3. Stock.
Weißt Du auch, daß die arme Joachim noch immer zu Bett liegt? Sie war sogar lebensgefährlich krank einige Tage. Der arme Joachim soll schrecklich gekämpft haben, ob er nach London gehen solle oder nicht, bis ihn schließlich doch der Arzt beruhigt hat. Es ist doch ein Elend, was das jetzt für Frauen sind – nichts können sie mehr aushalten.
Von den Kindern kann ich Gutes soweit erzählen; Elise hat so viel Stunden, daß sie keine mehr annimmt, Julie ist ganz hergestellt, Ferdinand wird im Herbst in den Kaufmannsstand übergehen, und vom Ludwig weißt Du mehr als ich – er scheint sich jetzt doch etwas zusammenzunehmen.
. . . . . Nun, lieber Johannes, habe ich ’mal geplaudert wie manchmal, wenn Du gemütlich neben mir sitzest; jetzt hoffe ich, Du werdest auch ’mal wieder lebendig bei Deiner alten Freundin, und recht bald!
Grüße meinen Ludwig, auch Levi, und denke Deiner
getreuen
Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Pest
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Karlsruhe
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1022-1026

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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