23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 14080
Geschrieben am: Donnerstag 09.12.1858
 

Wien, den 9. Dezember 1858.
Lieber Johannes,
ich hätte Dir schon früher wieder geschrieben, ich war aber seit meinem Konzerte vorigen Sonntag so angegriffen, daß ich nicht konnte. Deinen Brief erhielt ich Montag, Noten aber bis jetzt keine – hast Du sie denn mit dem Briefe zugleich abgeschickt? Ich begreife nicht, daß sie so viel länger gehen sollen.
Nach meinem Konzerte am Sonntag, das, nebenbei gesagt, sehr besucht war, fand ich zu Hause Brief von Joachim mit der Nachricht von Bachs und der Dirichlet Tode. Beides erschütterte mich sehr, und zwar so, daß ich die Nacht darauf kein Auge schloß. Durch solche Fälle wird man recht gemahnt, wie nichtig und vergänglich alles ist.
. . . . . . . Wir sind nun doch einmal Menschen und hängen am Leben – die Erinnerung allein gibt keinen Ersatz für das Verlorene. Wenn’s doch der Himmel mir auch einmal so gut machte, mich schnell hinwegzunehmen – recht bald . . . . . .
Mit den ungarischen Tänzen hast Du unrecht, rhythmisch sind sie es doch sehr, das sagten mir auch selbst Ungarn, und gewiß lag der Fehler am Publikum selbst, wenn sie ihnen nicht den erwarteten Eindruck machten, weil sie ungarische bekannte Melodien zu hören hofften. Hier werde ich sie in meinem 3. Konzert auch spielen, wenn ich noch eines gebe, was sich erst nach dem 2. (nächsten Sonntag) entscheidet, je nachdem es besucht ist.
Im Burgtheater hatte ich wieder manchen Genuß, eben so im Kärntenertor. Neulich sah ich, seit meiner Kindheit zum ersten Male wieder, die Räuber, den Franz von einem jungen 22jährigen Menschen ganz genial. Dann hatte ich den hohen Genuß, zum ersten Male in meinem Leben Iphigenie auf Tauris zu hören – meine Wonne beschreiben zu wollen, wäre vergeblich – Du weißt, was das ist. Solche Musik zum ersten Male hören, das ist wahre Götterlust.
Lohengrin wird fleißig gegeben, noch entschloß ich mich nicht dazu, werde es aber doch nächstens. Der ehemalige Kapellmeister Eckert ist Direktor des Theaters geworden – das ist doch sonderbar, der Schritt vom Musiker zum Theater-Intendanten. Die musikalischen Verhältnisse sind übrigens traurig hier, eben nicht interessant. Ich weiß niemand, mit dem ich vorzugsweise gern verkehrte hier; nur in der Familie Streicher fühle ich mich zu Hause.
Ich wohne in dem Hause, oder vielmehr an der Stelle, wo früher Mozarts Wohnhaus stand, und wo er auch starb; der jetzige Besitzer des Hauses ließ ihm ein hübsches Denkmal setzen im Eingange des Hauses. Mich überrieselt immer ein heiliger Schauer, wenn ich vorübergehe – nur jedesmal ein Hauch von ihm, ein musikalischer, da hätte ich genug fürs ganze Leben!
Vom Herrn Brand aus Pest habe ich Dir den Auftrag auszurichten, daß, wenn Du einmal nach Pest kommen wolltest, er sich eine wahre Freude daraus mache, Dich bei sich zu beherbergen, Du mögest es ihm nur einige Wochen vorher mitteilen. Nun, man kann es ja nicht wissen, wie bald Du einmal dahin kömmst! – ich wünschte es Dir . . . . . .
Ich lege das Programm zu meinem nächsten Konzert bei – ist’s auch nicht außerordentlich, so ist’s doch immerhin hübsch. Leb wohl, lieber Johannes, schreibe bald, und gedenke Deiner Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Wien
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Detmold
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
578-581

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten (Mehr Informationen).
Wenn Sie auf unserer Seite weitersurfen, stimmen Sie bitte der Cookie-Nutzung zu. Ich stimme zu.