23.01.2024

Briefe



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ID: 14085
Geschrieben am: Dienstag 03.05.1859
 

London, den 3. Mai 1859.
Lieber Johannes,
gleich gestern nach dem Philharmonischen wollte ich Dir noch schreiben, ich war aber so müde, daß mir fast die Feder aus der Hand fiel! Denn ich hatte das Konzert mit der gespanntesten Aufmerksamkeit angehört, um so mehr, als ich, denke Dir, die Probe, derenhalber ich hierher geeilt hatte, nicht hören konnte, weil nach den neuesten Statuten durchaus niemand in die Probe darf. Das war mir hart – denke Dich nur in meine Lage. Du kannst also nach einmal Hören kein Urteil verlangen, ich kann nur sagen, daß es mich teilweise entzückte, teilweise aber auch mir unerquicklich war, namentlich durch die oft überladene Instrumentation, die es so oft schwerfällig macht, wo es das dem Gedanken nach gar nicht ist. Dann kommt mir manches Wagner’sch vor, was mich unangenehm berührt; die Motive aber finde ich durchgängig wunderschön, die Durchführungen, besonders im letzten Satz, höchst interessant, merkwürdige harmonische Wendungen, so z. B. der Übergang wieder ins Thema, der Charakter im Ganzen so einheitlich; das Adagio (Du kennst das ja wohl?) reizend innig, nur bringen am Schluß Hörner und Klarinetten das Thema etwas schwerfällig, was die sanfte Stimmung stört. Der andere Satz ist aber sehr lang, und man empfindet’s, was doch nicht sein muß. Wenn ich nur erst einmal die Partitur durchsehen kann, wird mir manches klarer werden! So Bedeutendes muß man doch durchaus mehrere Male hören, will man sich ein Urteil bilden können.
Es war übrigens nicht schön begleitet, nicht genug probiert für die großen Schwierigkeiten.
Das Publikum verstand es natürlich nicht, ließ es ihn aber, was mir weh tat, auch fühlen, wenn auch nicht mit Zischen. Nun, am Ende wird’s ihn nicht geschmerzt haben, er weiß, was er will. Eben schreibt er mir, er habe sich gefreut, daß das Publikum so stille zugehört – ich habe ihn noch nicht wieder gesprochen nachdem. Ich wünschte nur, ich könnte Dir recht ordentlich darüber schreiben, doch am Ende siehst Du es ja bald, und siehst dann mit Deinen zwei Augen mehr, als ich mit 20 Ohren hören würde.
. . . . . . . Heute kann ich Dir nur noch über Joachims ersten Beethoven-Abend berichten, der ganz wundervoll war. So hörte ich noch kein Quartett, wenngleich die anderen, trotz aller sonstigen Meisterschaft, weit hinter Joachim zurückblieben – mit einem Ton voll seiner Seele schlägt er alle! –
Nur waren drei schwere Quartette, op. 127, 95 und – zu viel hintereinander, und nur er vermochte es über mich, daß ich’s aushielt.
Neulich besuchten wir zusammen die Lind – schöner als sie kann man sich wohl nicht zur Ruhe setzen!
Dieser Brief kommt nun gerade zu Deinem Geburtstag in Deine Hände, nimm meine herzlichsten Glückwünsche, lieber Johannes – gewiß gedenkst Du meiner an dem Tage auch liebend!
Die Maiblumen seien Dir ein alter treuer Gruß
Deiner
Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: London
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Hamburg
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
616ff.

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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