23.01.2024

Briefe



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ID: 14111
Geschrieben am: Montag 29.07.1861
 

Kreuznach, den 29. Juli 1861.
Lieber Johannes,
das war doch eine gar zu kurze Freude, die Du mir gemacht, kaum, daß ich die Sachen flüchtig durchsehen konnte, das heißt einen nur nippen lassen an etwas Gutem. Und wäre es wenigstens Joachim gewesen, für den ich alles hergeben mußte! Den habe ich doch so lieb, daß ich leichter für ihn zurücktrete, als für einen andern. Ich bin wirklich recht traurig darüber! Und das geliebte Sextett mußte ich auch mitschicken! Es war noch gut, daß ich es bei mir hatte – ich hatte es mitgenommen, weil ich mich nicht davon trennen wollte. Hoffentlich hast Du alles zur Zeit bekommen – ich packte gleich nach Empfang Deines Briefes ein. Ein Urteil kann ich natürlich nicht fällen, nur über den ersten Eindruck zu Dir sprechen – wird Dir daran etwas liegen? Und doch habe ich oft erfahren, daß der erste Eindruck mir blieb.
In dem G moll-Quartettsatz ist mir vieles sehr lieb, einiges weniger. Der erste Teil dünkt mir zu wenig G moll, und zu viel D dur, ich finde, er verliert durch den Mangel an G moll an Klarheit. Die Stelle nach dem 2. Motiv, wo es so warm wird
[Notenbeispiel]
etc.
entzückt mich, die Begleitung so wogend. Nicht so lieb’ ich die Stelle
[Notenbeispiel]
die mir etwas zu gewöhnlich für Johannes Brahms. Die Durchführung im 2. Teil ist sehr schön, voller Schwung die Steigerung bis zum G dur. Wo aber bleibt später die Wiederholung des 2. Motivs? Soll das Motiv, wo die Streichinstrumente Solo eintreten, dafür gelten? Das lasse ich mir übrigens gern gefallen! es wird so schön, wo das Klavier in Triolen dazu tritt. Der ganze Satz könnte mir, glaube ich, sehr lieb sein, wenn nur der erste Teil im Anfang ruhiger in G moll verbliebe und nicht etwas zu lang im Verhältnis zum 2. schiene. Vom Scherzo in C moll, meine ich, müßtest Du schon beim Aufschreiben, wenn Du an mich gedacht, mein Entzücken gewußt haben. Scherzo würde ich es nun freilich nicht nennen, kann es mir überhaupt nur Allegretto denken, aber das ist ein Stück so recht eigens für mich. Wie so warm und innig, herrlich mit fortreißend die wehmüthige Stelle
[Notenbeispiel]
… das Stück möchte ich mir immer und immer wieder spielen können! Und wie schön muß das klingen, immer die Orgelpunkte! Du lächelst gewiß über mich und meinst vielleicht, ich kenne nicht den höheren musikalischen Wert des ersten Satzes, gewiß weiß ich ihn, aber in dem C moll-Stück, da kann ich so schön sanft träumen, mir ist, als ob die Seele sich wiegte auf Tönen. Das Scherzo in A dur kenne ich noch zu wenig, habe aber doch mit großem Interesse die schönen Verwebungen des Themas verfolgt – das schlingt sich immer so schön ineinander und entwickelt sich wieder ebenso eines aus dem andern. Das 2. Motiv erinnerte mich sehr an eine Stelle in Roberts Streichquartett:
[Notenbeispiel]
etc.
nicht melodisch gerade, aber in der Anlage und Stimmung. Das Trio ist recht frisch, und eigentümlich im Rhythmus, die 6 und 7 Takte frappierten mich erst nicht angenehm, aber daran gewöhnt man sich. Ich glaube, mit diesem Stücke ist es wie mit manchem von Dir, das wird einem erst recht lieb, wenn man es genau kennt, erst oft gehört hat.
Zur Durchsicht des Credo kam ich natürlich nicht in der kurzen Zeit – aus solch einem Labyrinth von Kanons mich zu finden brauche ich viel Zeit. Wunderbar ist nur Deine Gewandheit in so künstlichen, schwierigen Sachen, doch genieße ich solche erst, wenn ich sie schön gesungen höre. Reizend ist der Gesang aus Ossian, recht eigen wehmütig muß das klingen, aber schwer zu singen ist er, glaube ich. Eine Härte darin stört mich, ich kann sie Dir aber nicht genau bezeichnen, es ist da, wo es enharmonisch B dur wird 2 Takte darauf im Baß die Fortschreitung, und läßt sich leicht vermeiden. Den Choral habe ich zurückbehalten, sehr künstlich aus der Affaire gezogen, schön aber kann ich ein solches Chaos von aufeinander folgenden Harmonien nicht finden. Nun, lieber Johannes, nimm meinen Dank für alles, der freilich ein viel freudigerer wäre, hätte ich’s nur einige Tage länger genießen können.
. . . . . Meine Reise nach Aachen hat mich nicht gereut, und habe ich an der Messe, Kyrie, Sanctus und Agnus dei, große Freude gehabt. Du glaubst nicht, wie schön das Alles klingt. Tief ergreifend ist das Kyrie und wie aus einem Gusse, im Sanctus einzelne Sätze von so wundervoller Klangwirkung, daß es einem kalt über den Rücken rieselt. Einzelne kleine Stellen abgerechnet, ist doch die Musik sehr religiös, kirchlich, was ich mir gar nicht so gedacht hatte. Wüllner hatte die Sachen sehr schön einstudiert. Ich habe natürlich kein Bedenken mehr,◊9 es drucken zu lassen – könnte ich nur auch das Requiem hören. –
Wie freue ich mich, daß es Dir in Deiner Sommerwohnung so gut gefällt! Da muß es ja mit dem Komponieren flott gehen. Wie lange wirst Du noch dort wohnen? Du schriebst mir ja früher, Du könntest nur zwei Monate da bleiben, und doch meinst Du, ich würde Dich noch darin finden, wenn ich im Herbst käme? Vermute ich recht, ich denke mir, Joachim hat Dich zu Deinem Geburtstag überrascht? Ich glaube nicht, daß er zu der Zeit in Hannover war. Mir hat er früher geschrieben, daß er nach dem Antwerpener Fest (wo er, nebenbei gesagt, das schöne Honorar von 400 Tlr. für das Beethoven-Konzert erhält) mit mir reisen wolle, wohin ich Lust hätte. Ich habe ihm die Schweiz vorgeschlagen, ohne jedoch auf ihn zu bauen. Seine Antwort hierauf erwarte ich noch.
Stockhausen telegraphiert mir heute von Baden-Baden, ob ich bei der Großfürstin Helene von Rußland morgen spielen wolle; ich habe einfach nach dem Honorar gefragt – Ehre suche ich nicht bei hohen Herrschaften.
Neulich gab ich hier noch ein sehr besuchtes Konzert, worin meine Schwester, die mich hier besuchte, mitwirkte, auch Solo spielte. Diese Einnahme kam mir sehr zustatten für die Schweizer Reise; Spa hat bis jetzt noch wenig gute, mehr schlimme Wirkung auf mich hervorgebracht, und ist wirklich die gute Luft in der Schweiz und erheiternde Gesellschaft noch meine einzige Hoffnung für diesen Sommer.
Ist Dietrich noch bei Dir, so grüße ihn freundlich und gratuliere ihm zu seinem Töchterchen. Wenn er fort ist, hoffe ich sehr auf den versprochenen langen Brief.
Mit einigen Melodien in Deinen neuen Sachen hast Du es mir angetan, ich bin sie in all den Tagen nicht wieder los geworden. Laß Dich im Geiste dafür umarmen, mein lieber Johannes, täte ich es auch in Wirklichkeit noch viel lieber.
Von allen hier soll ich Dich herzlich grüßen, sage auch den
Deinen alles Schöne.
Wie immer treuinnig
Deine
Clara.
Ich bleibe vorläufig noch hier.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Kreuznach
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Hamm bei Hamburg
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
786-791

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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