23.01.2024

Briefe



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ID: 14130
Geschrieben am: Donnerstag 10.03.1864
 

Petersburg, den 10. März 1864 abends.
Dein Brief, lieber Johannes, empfing mich bei meiner Ankunft hier in Petersburg und freute mich herzlich, wie Du denken kannst. Du mußt wissen, daß ich beinah 4 Wochen später hierherkam, als ich früher beabsichtigt; in den Signalen war ich als angekommen gemeldet, als ich noch ruhig in Riga saß. Ich erfuhr nämlich in Königsberg, daß Ostern hier 5 Wochen später fällt als in Deutschland, wozu sollte ich nun so lange vor den Fasten hier sitzen und das viele Geld verzehren? Ich gab also in aller Gemütlichkeit in Königsberg, Riga und Mitau Konzerte und fand die allerenthusiastischste Aufnahme überall, und die Einnahmen waren auch nicht schlecht. Die Reise hierher, erst von Königsberg nach Riga, dann von dort hierher, war aber sehr anstrengend, und auf der ersten Reise wurde ich so krank, daß ich, in Riga angekommen, gleich zu Bett mußte und eigentlich noch immer daran laboriere, trotzdem aber meine Konzerte mit merkwürdiger Kraft und Ausdauer durchführe. Wo mir immer wieder die Begeisterung herkömmt, kaum weiß ich es! Viel Freude habe ich doch daran, überall große und viele Anhänger Roberts zu finden, und ich kann wohl sagen, daß Roberts Sachen mit zu denen gehören, mit denen ich die größten Erfolge habe. So spielte ich heute vor 8 Tagen im Konservatoir-Konzert Roberts Konzert und hatte einen so stürmischen Beifall, wie ich selten erlebt, ebenso ging es mir heute in meiner zweiten Kammermusik-Matinee mit den Symphonischen Etuden. Ich finde überhaupt das Publikum hier weit musikalischer, als man es bei uns glaubt – die Russen haben von der Natur eine musikalische Organisation, und das hilft schon viel, ohne zu verstehen, empfinden sie doch vieles. Ich gebe übermorgen die dritte Matinee, dann kommt die stille Woche, wo die Leute nur beten, nachdem sie diese Woche in einem förmlichen Vergnügungstaumel verlebt (sogar alle Tage zweimal Theater hatten in allen Theatern), dann beginnen die Konzerte, von denen meines wohl eines der ersten sein wird, und zwar Dienstag, den 22. März. Diesmal ist es wirklich ein wichtiger Tag, denn es hängt pekuniär viel von diesem Konzert ab, und ist ein ungeheures Risiko – denke Dir in einem Theater, das 3 000 Menschen faßt, und wo man 7–800 Taler Kosten hat. Es ist aber nun einmal so hergebracht, daß jeder Künstler sein erstes großes Konzert dort gibt. Durch Julie Asten (Frl. Hillebrand) hast Du wohl schon erfahren, daß die Großfürstin Helene mich eingeladen hat, in ihrem Palais zu wohnen, und befinde ich mich seit 3 Tagen hier ganz komfortabel, obschon ich schwer aus der lieben Familie ging, bei der ich wohnte; wäre nur die Wohnung nicht so sehr entfernt gewesen, so hätte ich sie nicht verlassen – es war ein Dr. Stein, Bruder meiner Schwägerin, ich weiß nicht, ob Du ihn ’mal in Düsseldorf gesehen. – Das Leben sonst hier mußt Du Dir nicht so schrecklich vorstellen, die Kälte ist sehr erträglich, nicht ärger, als sie in Deutschland war, jedoch liegt die ganze enorme Stadt hoch voll Schnee, und bis der ’mal weg ist, das dauert immer bis Ende April; die Zeit, wo er fortgeht, ist aber entsetzlich! Das Gehen fast unmöglich, das Fahren lebensgefährlich, denn entweder fällt man in ein Loch, oder man fährt in ’nem See, die ganzen Straßen haben ein wellenförmiges Aussehen, und soll es manchen Leuten passieren, daß sie seekrank werden. – Aber die herrlichsten Gebäude sind doch hier, die man sich denken kann! Alle sind so sehr in die Breite gebaut, daß solch ein Palast gleich die Länge einer ganzen Straße einnimmt, und nun die herrliche Newa, jetzt freilich eine Eisfläche, auf der man wie auf Straßen fährt. – Ob ich nach Moskau reise, weiß ich noch nicht, es ist aber wahrscheinlich, da ich von dort schon Briefe erhalten.
Rubinstein benimmt sich sehr prächtig gegen mich und wird mir immer lieber; er soll einen ganz vortrefflichen Charakter haben, keine Spur von Eifersucht, soll eigentlich der einzige hier sein, der aufrichtig ist (wird aber schrecklich angefeindet – die Schwierigkeiten, die man seinen Konzerten entgegensetzt, sollen endlos sein), die anderen Künstler alle mehr oder weniger falsch – zum Glück habe ich das letztere noch nicht erfahren, möchte es auch nicht.
Die Großfürstin Helene habe ich leider noch nicht gesehen, soll aber nächste Woche zu ihr kommen; ich sage „leider“, weil es mir nach allem, was ich von ihr gehört, sehr erwünscht wäre, sie etwas näher als nur durch eine Soiree bei ihr zu kennen. Es mag wohl keinen Fürsten noch Fürstin geben, die so viel für die Kunst täten, wie sie; was hier an guten Musikinstituten existiert, das ist durch sie; z. B. das Konservatorium erhält nur sie, alle Professoren sind durch sie besoldet etc. etc. Beim Kaiser, der übrigens sehr geliebt ist, sind nur einige Soireen im Winter mit Instrumentalmusik, aber nur anstandshalber, sagt man. –
Ich sehe mit Entsetzen, daß ich Dir fast zwei Bogen nur von mir und hier geschrieben, obgleich ich doch so vieles Dich Betreffende zu fragen habe. Es betrübt mich, daß Du Dich in Wien doch nicht so glücklich zu fühlen scheinst, als ich es gehofft hatte, jedoch liegt es wohl mehr in Dir selbst, wie eine jede hochstrebende produktive Seele wohl selten innere Befriedigung findet! Was Du mir von Deinem Quintett schriebst, begreife ich nicht recht! Hast Du es aufführen lassen, und ist es durchgefallen? Und deswegen hättest Du ein Duo daraus gemacht? Es muß Dir selbst doch in seiner ursprünglichen Gestalt oder vielmehr im Klange nicht behagt haben? Hättest Du das nicht leicht ändern und doch als Quintett lassen können, es waren doch nur Stellen, die nicht gut klangen, vieles aber wieder so ganz quartettmäßig! Wohl möchte ich es mit Dir spielen, das wird aber bis nächsten Winter dauern, wo ich nun doch wirklich ’mal nach Wien will.
Bist Du denn mit Deinem Rinaldo fertig? Und wem schickst Du ihn ein? Wie geht’s mit dem Gesangverein? Habt Ihr schon das dritte Konzert gehabt? Wie fiel es aus? Das wüßte ich gern alles, auch wie Du sonst lebst, mit wem Du am meisten verkehrst etc.? Siehst Du Lewinsky, Drahtschmieds, Rettichs, kurz, von meinen Freunden, so grüße doch von mir, und namentlich die arme Julie, die ich aufs innigste bedauert habe. Ich glaube aber, daß sie nächsten Herbst besser ihren Zweck erreichen wird als jetzt, wo die politischen Wirren alle Gemüter beherrschen.
Von meinen Kindern weiß ich nur Gutes zu sagen, soweit ich Nachrichten hatte, und zu meiner großen Beruhigung scheint sich auch Julie bei Bendemanns einzuleben, so sehr anders es auch dort sich lebt als bei Frau Schlumberger.
Ich denke, was der Aufenthalt bei Frau Schlumberger ihr in mancher Hinsicht Gutes brachte, das wird ihr bei Bendemanns in jeder Hinsicht werden – das sind feine und künstlerisch gebildete Menschen und – deutsch und einfach.
Elise macht große Fortschritte in der Musik und, wie es scheint, auch in der Liebenswürdigkeit, denn sie wird auf Händen getragen überall, wo sie hinkommt – jetzt schon am 3. Ort. Die andern lernen fleißig, und Marie genießt Petersburg, freut sich aber noch mehr auf Moskau, wo man doch eigentlich erst recht in Rußland ist.
. . . . Wirst Du mich noch ’mal mit Brief hier erfreuen? Tue es (aber unfrankiert), vielleicht habe ich Dir später noch mehr Gutes von mir hier mitzuteilen, und was Du doch auch gern hörtest?
So leb denn wohl und in zuweiligem Gedenken
Deiner
Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: St. Petersburg
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
891-896

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 

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