23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 14131
Geschrieben am: Freitag 29.04.1864
 

Moskau, den 17./29. April 1864.
Deinen lieben Brief hätte ich Dir, lieber Johannes, gern früher beantwortet, doch wollte ich Dir mit manchen Erlebnissen zugleich das Ende meiner Reise mitteilen können, das nun, dem Himmel sei Dank, heranrückt. Ehe ich aber von anderem spreche, laß mich Dir erst zu Deinem Geburtstage die innigsten Wünsche sagen, und möchtest Du ihn so froh verleben wie möglich im fremden Lande. Fast glaube ich, bei Euch ist es schon grün und warm genug, daß Du an dem Tage in die Berge streifst, und dann weiter vielleicht ins Steiermärkische! Freuen soll es mich, zu hören, daß Du Dich ’mal wieder recht erquickt an der Natur. Hier merkt man vom Grün noch gar wenig, nur ein undurchdringlicher Staub hüllt fortwährend die ganze Stadt ein, so daß man von den 400 Kirchen oft kaum einige sieht; wenn aber der Regen etwas den Staub gelöscht, dann ist der Anblick der Stadt vom Kreml aus wunderbar. Die ganze Stadt, sowohl die Bauart als auch das Treiben in den Straßen, die Kaufhäuser, das Gewühl darum herum, macht einen asiatischen Eindruck. Man sieht nur Volk, schmutzige zerfetzte Männer, ebensolche Frauen, und hört von ihren Gebräuchen, daß einem ordentlich schauert. Die Zivilisation des Volkes steht auf einer so niedrigen Stufe, wie wir im Ausland gar keinen Begriff davon haben, und doch fängt es jetzt, nach Aufhebung der Leibeigenschaft, schon an, besser zu werden, wenigstens fängt das Volk an, für sich zu denken, etwas zu lernen, kurz, menschlicher zu werden. Erst hier im Lande begreift man das Große, was der jetzige Kaiser zustande gebracht. – Der ist wahrlich verehrungswürdig, denn nach meinem Gefühl gehört zu solch ’ner Tat mehr Mut, als je ein Feldherr zu ’ner Schlacht bedurfte.
Der Adel ist, für jetzt wenigstens, ganz gestürzt, was natürlich auch fremden Künstlern fühlbar genug. Und doch, trotz allem und allem, kann ich Dir sagen, daß ich zufrieden bin – ich hatte vom Anfang an meine Erwartungen nicht zu hoch gestellt, und nun sehe ich sie übertroffen, denn ich hätte mit aller Anstrengung in Deutschland so viel in 3 Monaten nicht verdienen können.
Mein Konzert im Theater, wovon ich Dir neulich ziemlich ängstlich schrieb, brachte mir nach Abzug der Kosten von 700 Rubel doch noch einen Überschuß von 800 Rubel, und so blieben mir bei meiner Abschieds-Soiree in einem kleinen Saale auch wieder 700 Rubel, und war es so überfüllt, daß wir viele Leute fortschicken mußten. Man will mich bereden, bei meiner Rückkehr von hier in Petersburg noch eine Soiree zu geben, doch werde ich es wohl nicht tun, besser, so brillant beschlossen, wie es geschehen ist. Daß Du mich noch hier siehst, hat seinen erfreulichen, aber auch unerfreulichen Grund. Ich wurde in Petersburg gleich den Tag nach meinem Konzerte im Theater recht ernst unwohl, so daß ich fast drei Wochen verlor und noch unwohl hierher kam, aber mich hier bald erholte, denn Klima, Wasser, Luft ist besser hier als in Petersburg, und hier bin ich in einer lieben Familie, Halb-Deutsche, so liebevoll gepflegt, daß mir wohl nichts zur Behaglichkeit fehlen würde, sehnte ich mich nicht so schrecklich nach Deutschland. Du kannst Dir nicht denken, was ich kämpfe mit meinem Herzen, das mir oft zum Zerspringen sehnsüchtig ist. Wäre ich aber jetzt gegangen, ich hätte nur zur Hälfte erreicht, was ich erreichen kann. Ich habe drei Kammermusik-Soireen gegeben, da kam nun Ostern dazwischen, wo 10 Tage kein Konzert sein darf. – Diese muß ich aushalten, um nachher am 4. Mai (deutscher Rechnung) noch ein Konzert zu geben; dann bin ich noch für den 6. zu einem Abonnement-Konzert (für Roberts Konzert) engagiert, spiele am 8. bei der Großfürstin Helene, die nächste Woche hier erwartet wird, und hoffe, am 9. nach Petersburg abzureisen.
Vor ein paar Tagen wurde mir die Überraschung, daß sich mir das Orchester durch eine Deputation zur Mitwirkung in meinem Konzerte gratis anbot – das hat mich wahrhaft gerührt! In Deutschland ist mir solches noch nie geschehen. Wenn Du mich aber fragst, welche Freuden mir sonst künstlerisch geworden, so muß ich sagen keine. Ich habe keinen einzigen Künstler kennen gelernt, der es wäre mit Leib und Seele. Sie betreiben alles rein äußerlich, das Schlechte, wie das Gute, nichts berührt sie tiefer, von Pietät wissen sie nichts – ich bin oft tagelang betrübt darüber, wenn ich gerade ’mal wieder Gelegenheit gehabt, es zu beobachten. Von Rubinstein erzähle ich Dir einmal – ich kann ihn nicht ausnehmen von dem, was ich oben gesagt, denn wie er komponiert, so treibt er auch die Musik als Direktor etc. Ihm fehlt vor allem der heilige Ernst, und das empfindet man, wenn er komponiert, dirigiert, spielt, aber, recht hast Du, als Mensch hat er seltene Eigenschaften, und wäre er nicht von einer fortwährenden, wahrhaft fieberhaften Unruhe, man könnte wohl recht viel von ihm haben. Das Klavierquartett hab’ ich gehört, und wohl muß ich sagen, daß es mich mehr als irgendetwas von ihm früher interessiert hat. Es ist viel Schönes darin, selbst merkt man im ersten Satz namentlich, daß er sich Mühe gegeben, aber im letzten wird es dann wieder so bunt, daß es schrecklich ist. Das Scherzo erschien mir reizend, die Motive aber durchweg unbedeutend.
Ich bin sehr begierig, ob Du nun die Stelle angenommen? Ich meine, es wäre immer gut, wenn man eine Weile aushielte, es kommt dann Besseres nach. Nun ist ja auch Dein Konzert vorüber, und ist es glücklich gegangen? Überraschend war mir, von Dir über Tausig zu hören, früher hatte ich immer nur von ihm sprechen hören als einem Pauker, und das Pauken wird mir immer schrecklicher, ich kann’s geradezu nicht ertragen – ich habe hier in Rußland darin wieder ausgehalten, namentlich von Bülow. Der hat hier zwei Konzerte gegeben, wo er sich eine Güte getan in Liszt. Das gefiel nun doch den Leuten nicht, und er hatte hier und in Petersburg schlecht besuchte Konzerte. Doch bitte, unter uns dies, ich will es nicht verbreiten. Das ist mir doch der langweiligste Spieler, da ist von Schwung und Begeisterung keine Rede, alles ist berechnet; freilich eminent ist seine Technik und sein Gedächtnis, aber was nützt einem eine solche Technik ohne jeden seelischen Hauch, der sich schon in der Art der Technik herausempfinden läßt.
Von Hamburg aus hörte ich (von Friedchen), daß Du Ende Mai dorthin kämest – ist dem so? Stockhausen hat sich in St. Georg ein Haus gekauft und hat Anfang Juni seine Hochzeit – Vielleicht bist Du gerade dazu dort. Die Braut soll nicht hübsch, aber sehr angenehm sein. Recht hast Du, der hat Hamburg ausgepreßt wie eine Zitrone, er hat aber auch manches zustande gebracht durch seine Energie, das muß man ihm lassen. Er hatte auch ein Musikfest vor, doch das wäre jetzt meiner Ansicht nach eine ganz unglückliche Idee und wäre gewiß schlecht abgelaufen – Hamburg hat schon genug hergehalten.
Auf das Schubertsche Bild freue ich mich, es soll einen guten Platz bekommen.
Daß der arme Rieter Deine Lieder bekommt, freut mich doch sehr! Was zahlt er Dir dafür? Die ließe ich mir tüchtig bezahlen, denn damit macht er ein vortreffliches Geschäft! – Ich denke, dessen Gold muß noch mehr Strapazen aushalten können als das Härtelsche!?
. . . . . . Wann höre ich wieder von Dir? Bis Ende Mai ist meine sichere Adresse bei Frl. Leser, vom Juni an wieder Baden-Baden, Lichtenthal Nr. 14. Ich reise am 13. von Petersburg ab, denke den 15. in Berlin, den 20. in Düsseldorf zu sein! Das Aachener Musikfest zu versäumen, tut mir in einer Hinsicht leid – die Wirkung der Massen genießt man dort am allerschönsten. Joachim hätte ich auch so gern noch vor seiner englischen Reise gesehen! Wie leid tut mir, daß er wieder dorthin geht! Diesmal doch nur des Verdienens halber. Er mag viel gebraucht haben diesen Winter. In seinem Hause ist es reizend, aber nicht, wie ein junges Künstlerpaar sonst anfängt, und das beängstigt mich etwas. Ich bin jedoch vielleicht zu ängstlich darin. Der Himmel gebe es.
Jetzt aber zum Schluß! Reist Du nach Hamburg, so grüße die Deinigen sehr – Deine Mutter fand ich sehr wohl vorigen Winter und hoffe, Du findest sie ebenso.
Sei herzlich gegrüßt, und gehe es Dir, lieber Johannes, dieses und alle folgenden Jahre recht gut.
Deine Clara.
Ich möchte wohl wissen, ob ich den Lauf dieses Briefes richtig berechnet? Ich denke, er geht 9 Tage, müßte also zum 7. da sein.
Deine A Dur-Serenade ist neulich hier gespielt worden, Rubinstein, der Bruder des Anton, sprach mir sehr entzückt davon.
Marie sendet ihren herzlichen Geburtstagsgruß!

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Moskau
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
901-908

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten (Mehr Informationen).
Wenn Sie auf unserer Seite weitersurfen, stimmen Sie bitte der Cookie-Nutzung zu. Ich stimme zu.