23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 14134
Geschrieben am: Dienstag 19.07.1864
 

Baden-Baden, den 19. Juli 1864.
Lieber Johannes,
Dein Brief gestern hat mich so bestürzt und betrübt, daß ich Dir gleich heute schreiben muß. Wenn Du bedenkst, daß ich keine Ahnung von irgendeiner Disharmonie in Deiner Familie hatte, so wirst Du meinen Schreck über Deine Nachricht begreifen! Ich fühlte wohl vorigen Winter bei den Deinigen immer, als läge eine Schwüle über allen, namentlich bei Deiner Mutter, ich bezog es jedoch speziell auf mich, glaubte, sie seien mißtrauisch gegen mich, weil ich dahin kam und unter Stockhausens Leitung spielte, obgleich sie ja wohl wissen konnten, daß in meinen Verhältnissen ich keine Engagements von mir weisen kann. Du siehst also, daß ich jedenfalls ganz arglos in der Sache sein muß. Daß Du zu Deinem Vater hältst, würde mich unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht erstaunen, aber wohl hier, wo ich ja seit Jahren die Vorliebe für Deine Mutter gekannt. Ich finde es ganz entsetzlich traurig, wenn Leute nach so langem Zusammenleben, von erwachsenen Kindern umgeben, am Rande des Grabes fast, noch voneinander gehen! Eine Ansicht, wer recht oder unrecht hat, kann ich natürlich nicht haben, jedoch meine ich, entsteht so ein Mißverhältnis aus Kleinigkeiten, so finde ich, muß immer die Frau das besänftigende Element sein, sie muß bedenken, daß der Mann die Hauptsorge für die Seinen trägt etc. etc., ist aber der Mann untreu, vernachlässigt die Frau, oder ein Spieler oder Trinker, dann hat die Frau gewiß keine Schuld, wenn sie das nicht erträgt. Ich weiß, davon kann ja bei Deinem Vater nicht die Rede sein, und bin ungeduldig, die wahre Sachlage von Dir zu hören. Daß Du, nachdem Du das ganze Jahr mit Sehnsucht der Deinen gedacht, jetzt zu so traurigen Begebnissen dahin kommen mußtest, betrübt mich innig, wie Du denken kannst. Möchtest Du nicht zu Deiner Erheiterung etwas zu Joachim, der mit seiner Frau im Harz ist, gehen? Ich bin zwar bis Ende dieses Monats noch hier, dann aber den August muß ich doch wohl nach St. Moritz oder Rigi; ich fühle gar zu sehr, daß ich einer nervenstärkenden Luft bedarf; gehe aber sehr ungern von hier, und abgesehen davon, daß ich hier meine Behaglichkeit verlassen muß, kostet es noch sehr viel Geld. Deine Idee, den Herbst hier zuzubringen, scheint mir eine gute – ich glaube, es würde Dir wohl in den Wäldern gemütlich werden, und wenn Du es mir einige Tage vorher schreibst, daß Du kommst, so könnte ich Dir eine billige, still gelegene Wohnung suchen, wo Du ungestört arbeiten kannst, und hast Du dann Lust, zu mir zu kommen, so weißt Du ja, daß Du willkommen bist.
Für das Duo meinen Dank. Du irrst, wenn Du meinst, ich würde mich nicht damit abgequält haben – im Gegenteil, ich habe mich ein paar Tage ganz schwindlig damit gemacht, denn ich wollte es gern mit Rubinstein spielen und mußte, da nur eine Stimme ausgeschrieben, aus Deiner ersten Partitur spielen, und das war wahrlich nicht leicht. Ich war aber reichlich belohnt durch die Freude, die ich beim Spielen hatte, und auch Rubinstein wurde ganz warm dabei; der erste Satz namentlich entzückte mich, eigentlich aber liebe ich alle Sätze, nur finde ich hier und da in der Bearbeitung etwas schwülstig und für den Zuhörer wohl kaum verständlich, wenn er es nicht genau kennt, dann scheint es mir hier und da sehr schwer technisch, was sich leicht ändern ließe, ohne die Wirkung irgendwie zu beeinträchtigen, wohl aber die Verbreitung des Werkes zu fördern. Willst Du nicht mit dem Druck noch warten, bis wir es hier noch einige Male gespielt, wo Dir dann vielleicht selbst noch dies oder jenes auffällt. Daß es mich nur freuen kann, solches Werk gedruckt zu sehen, versteht sich von selbst. Ich schicke es nicht gern, da ich es nächster Tage noch ’mal mit Rubinstein spielen wollte, jedoch will ich Dich auch nicht warten lassen, und so erhältst Du es mit dem Bachband zusammen.
Ich habe jetzt fleißig an den Paganini-Variationen studiert, je mehr ich aber daran studiere, desto schwerer finde ich sie, ruhe aber doch nicht, bis ich sie kann, dazu interessieren sie mich durch ihre geistreichen Kombinationen. Für den Konzertvortrag scheinen sie mir aber nicht geeignet, denn nicht ’mal der Musiker kann all den originellen Verzweigungen und pikanten Wendungen folgen, und wieviel mehr steht dann das Publikum davor wie vor Hieroglyphen.
Willst Du mir nicht, was Du für mich bestimmt (As moll-Fuge etc.), an Friedchen, die uns nun wohl noch einige Tage besuchen wird, mitgeben? Ich freue mich sehr darauf. Deine à 4 m.-Variationen spielte ich neulich auch mit Rubinstein – erst wollte er nicht recht daran – nachher spielten wir sie rückwärts noch einmal, fast alle, weil sie ihm so gefielen.
Nun aber will ich Dir Lebewohl sagen. Noch eines: solltest Du hier nach Baden früher kommen, ehe ich da bin, so weißt Du, daß Du Noten und Bücher zu beliebigem Gebrauch findest.
Laß mich bald wieder hören, wie es Euch geht? Vielleicht gelingt es Dir doch, zu vermitteln, ist das gar nicht möglich? Sind denn die Deinen ganz voneinander getrennt? Wohnen sie nicht mehr beisammen? Du deutest mir so an – ich kann’s gar nicht recht fassen!
So sei denn noch herzlich gegrüßt – möchte sich der Himmel bei Euch wieder etwas klären! Hätte ich doch im Winter davon gewußt, vielleicht hätte ich etwas Gutes wirken können! Grüße die Deinen.
Deine Clara.
Das Duo schicke ich übermorgen ab, ich hoffe, es morgen noch ’mal mit Rubinstein zu spielen, wenn ich ihn habhaft werden kann.
Verzeih alle die Flecke, der Wind weht mir (ich sitze in der Laube) alle Augenblicke Tropfen aufs Papier.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Baden-Baden
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Hamburg
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
916-920

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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