23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 14145
Geschrieben am: Montag 01.05.1865
 

London, den 1. Mai 1865. Morgens.
Dem Maikind soll der erste Gruß im Mai gehören! Heute, liebster Johannes, bist Du nun wohl auf der Reise nach Karlsruhe – ach, könnte ich doch auch erst nach dem schönen Baden abfahren! Bummele nur nicht zu lange, sondern suche Dir bald ein ruhiges Plätzchen zum Arbeiten; ich hoffe, Du findest ein angenehmes Logis – bezahle nur ja nicht zu viel, denn bis Anfang Juli bezahlt man gewöhnlich kaum die Hälfte, da dann erst die Saison angeht; nicht mehr als höchstens 5 Gulden per Woche.
Für Deinen lieben Brief habe Dank; leider kam er einen Tag, nachdem ich Deine Variationen und Chorstück an Spina abgeschickt hatte.
Über die Variationen will ich Dir gern meine ganz offene Meinung sagen, da Du es wünschst. Ich habe sie mehrmals ganz genau durchgegangen und, wie Du denken kannst, mit dem höchsten Interesse, das erste Finale kannte ich noch nicht, und manche der Variationen, ich mußte aber jedesmal zu dem Schlusse kommen, daß ich sie in einem Hefte wünschte, dann aber einige ausgelassen, und das Finale des ersten Heftes, das ich bei weitem interessanter und schwungvoller finde als das zweite. Ich kann das Motiv, 2 Hefte zu machen, nicht recht finden, fände künstlerisch genommen dies nur, wenn die 2 Hefte ganz verschiedenen Charakters wären, dann scheint es mir auch gar nicht praktisch für den Verleger. Wer, außer Künstlern, die noch ein ganz besonderes Interesse daran haben, kauft sich 2 Hefte Variationen über ein Thema? Dann aber, bleibst Du dabei, so würde ich die Terzenvariation nicht zur ersten des 2. Heftes machen, denn sie führt einen gleich in schwindelnde Höhe, das ist, so interessant auch später, im Anfang unerquicklich, man hat sich ja noch kaum unten auf der Erde umgesehen. Übrigens liebe ich gerade diese Variation sehr, sie ist so kühn! – Wäre ich Du, ich machte nur ein Heft, ließe die 8. Variation im ersten Heft, die gar nicht gut klingt, dann vom zweiten Heft Nr. 4, 11, 12, 7a und die 16., die sich in Triolen verläuft, weg, dann würde auch das eine Heft nicht zu lang, und wer dann beim öffentlich Spielen eine oder die andere weglassen will, kann es ja noch tun. Mir fällt bei den Variationen immer der Titel Études en forme de Variations ein, der eigentlich sehr gut dafür paßte. Ich freue mich darauf, wenn ich sie erst wieder studieren kann.
Der Chor aus dem Requiem gefällt mir sehr, ich denke, er muß wunderschön klingen –, namentlich gefällt er mir sehr bis zu der figurierten Stelle, die ich da, wo sie sich weiter fortspinnt, nicht so gern habe
[Notenbeispiel]
etc.
doch das ist eine Kleinigkeit! Ich hoffe, Du läßt das Requiem nicht verduften, wirst es auch nach so schönem Anfang nicht tun. Wohl sind mir die schönen deutschen Worte lieber als die lateinischen – Dank dafür auch.
Für alles andere auch noch meinen herzlichen Dank, lieber Johannes. Joachim konnte ich den Chor nicht zeigen, er war nicht hier. Gestern erst konnte ich ihm die Lieder geben. Es wird ihm damit gewiß gehen wie mir, das erste wird er lieben vor allen. Ich bin immer wieder ganz entzückt davon. Joachim ist enorm beschäftigt, seine Frau und Kind hat er jetzt mit hier. Erstere muß sich sehr unbehaglich fühlen, denn sie spricht kein Wort Englisch, und das ist hier schrecklich. Hätte ich von Joachims Engagements etwas, das wäre gut für mich; wohl hatte ich einige, doch das deckt noch kaum Reise und Aufenthalt. Ich habe dreimal öffentlich gespielt, mit sehr großem Erfolg, in allen Blättern (die einem hier in’s Haus geschickt werden) ist das höchste Lob, von allen Seiten werde ich angegangen, Robert Schumannsche Kompositionen zu spielen etc etc., aber, die Engagements fehlen; es geht jetzt hier gar nicht mehr anders, als daß man sich einem Agenten in die Hände gibt, wenn man nämlich wirklich verdienen will. Nun, es wird sich wohl manches noch finden, und sei es, wie es wolle, so kann ich mir, habe ich den Mai ’mal ausgehalten, sagen, ich habe nichts versäumt, und in jedem Falle wird mir das den Sommer erleichtern.
Über das Grün hier und die herrlichen Bäume bin ich wieder entzückt, und herrlich ist doch die Stadt, wie ein großer Garten. Im Crystal Palace waren wir neulich auch einen Tag, und ich wieder ganz von der Großartigkeit menschlichen Schaffens überwältigt. Dort hörten wir auch die 9. Symphonie, sehr gut ausgeführt, aber die Tempis in unglaublicher Weise vergriffen, nie hörte ich diese Symphonie in so kurzer Zeit!
Leider haben wir seit zwei Tagen empfindliche Kälte – ob es bei Euch auch so ist? Das täte mir für Deinen Einzug in Baden leid.
Ich wollte Dir immer sagen und vergaß es immer wieder, daß ich über 50 Taler Zinsen für Dich liegen habe. Solltest Du etwa nach Hamburg zu schicken haben, so schreibe es mir – ich ließ das Geld für diesen Fall bei Frl. Leser, die es dann gleich besorgt.
Joachim spricht ernstlich davon, von hier direkt nach Baden zu gehen, ich glaube aber noch nicht recht daran, obgleich Du ein starker Magnet für ihn bist. Mir scheint, er hat die Absicht, seine Frau bei Mad. Viardot studieren zu lassen.
. . . . Elisen sage bitte, daß ich soeben ihren lieben Brief erhalten und bald wieder schreibe. Grüße sie wie Ludwig, dessen Brief ich auch erhalten, herzlichst, dann natürlich auch Levi und Allgeyer.
. . . . Ich ziehe in zwei Tagen in ein anderes Logis, wovor ich mich sehr fürchte, denn ich wohnte hier wunderschön und bequem; doch es kommt eine ganze Familie zum Besuch, und da muß ich gehen. Ich habe aber durch die Familie Benzon angenehme Bekanntschaften gemacht, und, ist man denn doch ’mal im fremden Lande, so ist es sehr erleichternd, hat man solche.
Meine Adresse ist also von nun an: 1 Ormes Square Bayswater. London. Sage sie doch auch Elisen.
Jetzt aber sage ich Dir, mein lieber Johannes, Lebewohl.
Laß mich bald von Dir hören, und denke recht oft an Deine
getreue
Clara.
Marie grüßt, auch Elisen und Ludwig.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: London
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Karlsruhe
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
985-989

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten (Mehr Informationen).
Wenn Sie auf unserer Seite weitersurfen, stimmen Sie bitte der Cookie-Nutzung zu. Ich stimme zu.