23.01.2024

Briefe



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ID: 17320
Geschrieben am: Dienstag 30.11.1858 bis: 02.12.1858
 

Am 30ten

Liebe Frau Schumann.

Der arme Bach ist nach einigen meist in bewußtlosem Phantasieren hingebrachten Tagen gestern am Nervenfieber entschlummert. Sie können denken, daß mich des gutmüthigen, lebenslustigen Jungen Tod recht erschüttert hat. Außerdem daß er mein Schüler war, verpflichtete mich der Umstand, daß die Seinigen so weit weg sind, für ihn mit zu sorgen. In den letzten Tagen freilich besuchte ich ihn nur auf Sekunden, wie es der Arzt wollte. Ich sage dies zu Ihrer Beruhigung, da Sie vielleicht die Krankheit für ansteckend halten. Ich bin aber körperlich sehr wohl, und geistig läßt es jetzt schon mein Concert zu keinem Weltschmerz kommen. Meiner Familie, namentlich der lieben Mutter aber, bitte ich die Sache zu verschweigen; Sie wissen, mütterliche Besorgniß macht leicht eine Mücke zu einem Mammuth, oder eine Violinsaite zum weltverbindenden Kabeltau.

Am 2ten December.
Soweit schrieb ich vorgestern; seitdem war Bach's Vater hier, das Begräbniß. Heute sollte ich wieder von dem Aufhören eines Menschenlebens hören, das mir lieb und Werth war. Wer konnte glauben, daß die lebendige, geistig immer strebende Frau mit den klugen Augen, Frau Dirichlet in 2 Tagen erkranken und aufhören sollte! Dasselbe Schicksal hat sie erreicht, das auch ihren Bruder Felix und die Hensel der Erde entriß. Dabei liegt auch Professor Dirichlet an einem Herzübel darnieder, sehr gefährlich. Die arme, heimgesuchte Familie! Wenn man sich dabei die arme 90jährige Großmutter denkt, die, sonst so glücklich, in wenig Tagen all den Jammer plötzlich hinnehmen muß. Was es für Geschicke giebt! Ich bin ganz zerklopft, kaum fähig über die raschen Erlebnisse zu denken. Es ist ein wahrer Segen, daß ich in wenig Tagen die Stärkung vor mir habe, Bach`s große Passion zu hören; sie wird von Grädener in Hamburg zu wohlthätigem Zweck in einer Kirche gegeben, und ich konnte der Aufforderung, das Violin-Solo dabei zu übernehmen, nicht widerstehen. Es wird mir unter den vorliegenden Umständen eine doppelte Wohlthat sein; ich habe bis jetzt nur Bruchstücke daraus gehört. Ich gehe Sonntag Abend nach Hamb. und kehre Mittwoch früh wieder; am 11ten ist unser erstes Concert, vermuthlich aus der Melusinen-Ouverture, einer Arie aus Medea, dem Violin-Concert von Beethoven (hier seit mehreren Jahren nicht gespielt) und der Schubert´schen Sinfonie bestehend. Zum zweiten, am 8ten Januar will ich von neuen Sachen das hier nie gesungene 2te Finale aus Don Juan (nach dem Untergang des Helden) und das Concert von Johannes vorschlagen. Ich bin neugierig, was Platen mir morgen in der Conferenz für eine Antwort giebt. - Wann denken Sie wiederzukehren? Überhaupt dünkt es mich sehr lange, seit ich von Ihnen und Ihren Plänen gehört. Schicken Sie, wenn Sie nicht selbst schreiben können, nur die Programme zu Ihren Concerten; das ist dann doch etwas! Meine lieben Verwandten schreiben auch, außer Vorwürfen über Stillschweigen, gar nichts von dem, was zu Hause geschieht. Ich habe wirklich so viele Briefe zu schreiben, daß ich manchmal nothgedrungen dem einen oder andern gegenüber pausiren muß. Johannes`Serenade habe ich noch nicht instrumentirt, ohne indeß die Idee aufzugeben. Er ist rege und fleißig, wie sich`s nicht anders von ihm erwarten läßt. Schrecklich leid thut mir`s, daß wir die Viardot nicht (allem Anschein nach) hier sehen werden. Platen schob mich erst mit <m>einer Antwort auf die lange Bank unter dem Vorwand, die Sache dem Könige vorzutragen; nachher schämte ich mich der von mir so hoch gehaltenen Frau Ungewisses mitzutheilen, wollte mich auf meine versprochene Audienz beim König verlassen, die aber theils durch Krankheit, theils wohl durch majestätische Gleichgültigkeit nicht gegeben wurde, kurz ich richtete nichts aus - und die ganze Geschichte ist wiederum recht Hannover`sch! Adieu, du musikalische Hofwirtschaft!


† † †


Ich muß noch mit einer Bitte schließen, nämlich derjenigen, einer quasi Schülerin von mir, Frl. v. Wendheim, auf deren Musikenthusiasmus und liebenswürdig bescheidenes Wesen ich große Stücke halte, freundlich zu begegnen und etwas vorzuspielen, wenn Sie sie in Wien etwa sehen.
Herzlich ergeben
J. J.

  Absender: Joachim, Joseph (773)
  Absendeort:
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 2
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Joseph Joachim und seiner Familie / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz / Dohr / Erschienen: 2019
ISBN: 978-3-86846-013-1
432-435

  Standort/Quelle:*) D-DÜhh
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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