23.01.2024

Briefe



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ID: 17375
Geschrieben am: Donnerstag 29.01.1863
 

Liebe Frau Schumann

Eben habe ich an Ihre Schwester Clementine nach London geschrieben, um ihr einen Empfehlungsbrief an Hallé zu schicken; das beschwichtigt aber meinen Wunsch von Ihnen zu hören nicht! Und ich bekomme wohl schwerlich etwas zu wissen, wie’s Ihnen auf der Reise geht, falls ich nicht frage? Graf Platen erzählt mir, daß Sie vorgestern in Köln, wo er war, gespielt hätten. Da ich mich aber nie auf den Fuß vertraulicher aesthetischer Mittheilung mit ihm gestellt hatte, weiß ich nicht ob er Sie gehört habe, was man einem Andern freilich an der bloßen Erzählung schon angemerkt hätte! Wie war Woldemars Psalm? Auch darüber wüßte ich gerne etwas, und ich hoffe Sie schreiben mir davon. Wir haben gestern Abend in der Singakademie die 1te Chorprobe zum Faust gehalten. Es wird rechte Mühe kosten; ich hatte gar keine Idee, wie sauer man sich das mit den Dillettanten [sic] werden lassen muß. Wie mit dem Abc muß jede der vier Chorstimmen einzeln erst buchstabiren lernen, und es schwindelte mir ordentlich bei dem Gedanken, daß da in 6 bis 8 Wochen Geist hinein gebracht werden soll. – Stockhausen hilft uns einstweilen in Kolmar einstudiren! Seinem zweiten Versprechen zu Folge soll er übermorgen eintreffen; wir wollen sehen was der Telegraph bringt! Ich freue mich aber doch den Faust von ihm zu hören, und wollte er wäre da. Es wird Ihnen, glaube ich <be>, lieb sein, den Beschluß meiner schwebenden Hannover’schen Frage zu vernehmen. Er wird Ihnen namentlich befriedigend erscheinen. Der König hat mir nach einer 2stündigen Audienz den Vorschlag gemacht: bloß 4 Monate in Hannover zu leben, meinen Aufenthalt gleichsam als einen <> Abstecher zu betrachten, um meine Beziehungen zu ihm und dem Orchester nicht aufzugeben. Außerdem sollten mir in den 8 Concerten zwei Choraufführungen größerer Werke zugesichert werden, und sonstige Verbesserungen für das Institut etc. etc. Kurz, ich habe der fast rührenden Vorsorge, mit welcher der König meinen Absichten zu <> begegnen wußte, nicht widerstehen können. Statt mir nach meiner Kündigung zu grollen, entwaffnete er mich mit dem Ausspruch, daß für ihn und die Königin die Freude an der Lieblingskunst verschwinden würde, wenn ich ganz gienge. Das ist edel, und wenn ich auch leider vieles Verkehrte an seinem politischem Charakter sehe, muß ich gestehen daß der König sich privatim fast als väterlicher Freund benommen hat. Er betonte, daß wir einen neuen Contrakt abgeschlossen hätten, daß es mich also nicht als eine bloße Gnade bedrücken könnte, so lange von Hannover fern sein zu dürfen, u. meine Freiheit zu genießen. Man wollte lebenslänglich abschließen, das habe ich abgelehnt. Ich wurde in der vorigen Woche durch einen höchst anregenden, liebenswürdigen Besuch erfreut, vom Dichter Björnstjern Björnson, einem Norweger, dessen kräftige, poetische Schriften ganz seiner edlen Persönlichkeit entsprechen. Ich glaube ich hatte Ihnen und Fräul. Marie einmal seinen „Arne“ zu lesen gegeben. Seien Sie, ich bitte, erst mir zu lieb freundlich gegen Björnson; bald werden Sie ihn um seiner selbst willen gern sehen. So wahren und tiefen Naturen begegnet man selten! Mit
freundlichem Gruß an Fräulein Marie
Ihr
Joseph Joachim

  Absender: Joachim, Joseph (773)
  Absendeort:
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 2
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Joseph Joachim und seiner Familie / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz / Dohr / Erschienen: 2019
ISBN: 978-3-86846-013-1
708ff

  Standort/Quelle:*) D-DÜhh
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 

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