Bendler Str. 17. d. 28. Oktbr
Liebe, verehrte Freundin!
Es ist fast beschämend für mich an Ihre große Güte zu denken! Wie lange wollte ich Ihnen schreiben, und doch habe ich’s nicht ausgeführt. Als ich vorigen Donnerstag durch Frankfurt kam wurde es mir sehr schwer nicht verweilen zu können; ich besann mich ob ich nicht einen Zug überschlagen sollte, und Nachts heimfahren. Aber da ich sehr erkältet war, und am Freitag um 9 Uhr in der Schule von meiner Geigerschaar erwartet wurde, so mußte doch der Verstand über das Herz den Sieg davontragen. Sehr viel Schönes hätte ich Ihnen von den Musikfesten in Zürich und zuvor in Meiningen erzählen mögen, wo Brahms wie der Unsterblichen Einer gefeiert worden war. Er hat mich durch die Fülle des Herrlichen, das von ihm geboten wurde, wahrhaft gefangen genommen, und ich freute mich seines Glückes, die musterhaften Aufführungen und die Begeisterung der Hörer in aller Fülle auch zu genießen. Sein Lo<o>s ist in der That beneidenswerth, und nicht zum Wenigsten, daß er sich sagen darf die Prophezeiung seines edlen Vorgängers unter unsern Meistern nicht haben zu Schanden werden lassen. Hat es ein herbes Geschick gefügt, daß ich ihm menschlich genommen ferner gerückt bin, so nimmt das meiner treuen Bewunderung für ihn nichts weg. – Ich höre zu meiner innigen Freude, daß Sie wieder sich viel wohler fühlen und sogar manche Freunde durch Ihr wundervolles Spiel beglückt haben, wie sonst. Nun, so Gott will, werde ich mich bald in Frankfurt selbst von Ihrem Wohlbefinden überzeugen können. Seien Sie versichert, liebe Frau Schumann, daß kein Tag vergeht an dem ich nicht Ihrer gedenke, in mitten aller Arbeit die mir hier auferlegt ist. Ich bin nun mit Frau v. Beulwitz ganz allein im Hause, da auch mein Jüngster jetzt in Breslau sein Jahr abdient, was ich schmerzlich empfinde. Wenigstens habe ich von allen Kindern gute Nachrichten. Seien Sie mit allen Ihren Lieben herzlich von mir gegrüßt,
Ihrem dankbar ergebnen Joseph Joachim
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