Utrecht 3 März 1895
Verehrte liebe Frau Schumann!
Ihr so gütiger inhaltreicher Brief verdiente eine bessere Antwort als ich sie heute, im Drang vieler Geschäfte geben kann. An Stoff würde es zwar nicht fehlen, denn schon der längere Aufenthalt Prof. Joachims in Holland gewährt ihn reichlich. Er ließ uns einigermaßen verschmerzen, daß wir Ihre Brahmstage nicht mit erleben konnten. Ich hoffe Ihnen später noch mehr davon zu erzählen. Für heute nur dies, daß uns noch niemals der Abstand |2| der Joachim von den anderen lebenden Geigern trennt, so gewaltig erschienen ist wie diesmal. Es war dies der allgemeine Eindruck, der um so stärker für die eminente Größe des Mannes spricht, als ja doch in rein mechanischer Beziehung, in Bezug auf bloße Technik, jüngere Geiger es ihm gleich, wo nicht zuvor thun. Unvergeßlich bleibt mir vor Allem der Vortrag der Ciaconna in Amsterdam. Wie oft hatte ich dies Wunderwerk von J. schon gehört und doch war es mir diesmal wie eine Offenbarung. Es war als ob man einem Schöpfungsakte beiwohnte an der Urquelle der Kunst, geradezu erschütternd. Ich habe nie etwas Genialeres, im allerhöchsten Sinne Geniales, |3| gehört. In anderer Weise unvergleichlich und wahrhaft beglückend war das Mozartsche Geigenconcert, das ich nie gehört hatte. Wie lacht einem das Herz bei dieser göttlichen Musik! Denken Sie, daß wir sie unmittelbar nach der sogen. Liebesscene aus „Romeo u. Julia“ von Berlioz, bekamen! Ein blühender Rosenstrauch nach einem dürren struppigen Grasfeld! Der Contrast war zerschmetternd für den armen Berlioz, der es doch ehrlich gemeint haben soll. Wie sich aber unser jetziges Publikum dies als Musik, als Kunst, vorsetzen lassen kann, wird mir immer räthselhafter, je öfter (zum Glück nicht oft) ich’s höre. Bei Berlioz werde ich keinen Augenblick das traurige Gefühl los, daß sich ein |4| Dilettant abquält etwas zu produciren wozu ihm die Natur die Mittel fast gänzlich versagt hat. Und das Schlimmste ist, daß das Alles so lange dauert! Und daß es anderen ebenso wenig Begabten den Muth giebt es nach zu machen! Ich bin fest überzeugt, daß es nicht gar lange mehr dauern wird, bis die Menschheit sich wieder allgemeiner erinnern wird, daß es in der Kunst auf Schönheit ankommt, und daß Schönheit ohne organische Form und Entwicklung ebenso wenig denkbar ist wie ohne geniale Erfindung. Man ist in der Beziehung jetzt im Großen und Ganzen von einer Anspruchslosigkeit, die mich oft an Idiotismus er-|5|innert. Gefährlich ist nur, daß unsere Jugend durch die verdorbene Kost, die ihr jetzt so massenhaft vorgesetzt und als Himmelsspeise angepriesen wird, einen rohen Geschmack bekommt. Denn es ist leider wahr, daß der Mensch sich auch in geistigen Dingen an das Schlechte gewöhnen kann, wie im Leiblichen an Spiritus, Morphium u. dgl. Und die Schuld kriegen die Künstler, die es immer in der Macht haben die Menge hinauf- oder herabzuziehen. Da das Herunterkommen in allen Dingen leichter ist, braucht es freilich eine andere Kraft für die Erhebung. Aber wenn nur alle mitwirken wollten, würde es schon gehen. Dem |6| einzigen wirklich Großen den wir haben, Brahms, kann man nicht zumuthen, daß er allein das Wunder fertig bringen soll, die ganze Kunst aus dem Sumpf herauszuziehen in den sie zu versinken droht. Aber es klammern sich doch schon viele an ihn an u. – wie jetzt wieder Leipzig zeigt – folgen denen wieder andere in wachsender Zahl. Es hat allerdings lange gedauert ehe die Prophezeiung Ihres Mannes für meine gute Vaterstadt eingetroffen ist. Jetzt fürchte ich, wird das Gewandhaus sogar für sich das Vorrecht in Anspruch nehmen, Brahms „entdeckt“ zu haben. Immerhin |7| ist mir dies Zögern lieber, als das dumme Anbeißen auf jeden schlechten Köder, der dem Publikum hingeworfen wird und das blinde Vergöttern jedes neuen Lichtchens, wie es in Weimar zur Methode erhoben worden ist und sich durch die Anstrengungen der Partei auch weiter in der Welt eingebürgert hat.
Aber ich bin ganz auf Abwege gerathen! Ich wollte Ihnen nur vorläufig für Ihre lieben Zeilen danken, die mir und Emma so sehr große Freude gemacht haben. Und dann wollte ich Sie um die Adresse Ihrer Frl. Tochter in London bitten. Ich gehe am 12ten März auf etwa 8 Tage nach London |8| wo ich am 14ten in der Royal Society u. am 16ten in der Physiolog. Soc. reden soll. Emma u. m. Tochter (Anna, die speciell Studien im Englischen macht) gehen mit. Wir wohnen bei Dr Oliver, Whimpolestreet 77. Finden wir Zeit, so würde ich gern Frl. Eugenie besuchen. Freilich ist schon jetzt die Fülle der Verabredungen u. Einladungen so groß, daß ich kaum sehe wie wir fertig werden u. auch noch 1–2 Tage für Cambridge u. Oxford erübrigen sollen. – Da unsere Freunde in L. meist gut musikalisch sind, bereitet Emma sich am Clavier etwas vor. Seit Wochen ist sie in die Kreisleriana vertieft (das ist Musik!) u. auch die Davidsbündler werden wohl bis London reifen. Dazu sehr viel neue Brahmse und manchen Bach und auch natürlich Mendelssohn nicht zu vergessen. Wir hoffen auch Prof. Joachim zu begegnen, vielleicht auch seiner Geige.
Emma, abwechselnd von einer der Töchter u. mir begleitet, konnte sichs nicht versagen Joachim außer in Utrecht, wo er unser lieber Gast war, in noch 4 anderen holländ. Städten zu hören.
Nehmen Sie die herzlichsten Grüße für sich u. die Ihrigen
von Ihrem
treu erge-
benen
ThW Engelmann