23.01.2024

Briefe



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ID: 18542
Geschrieben am: Montag 13.02.1882
 

Boston Mass. U. S. A.
Feb. 13. 82

Hochverehrte Frau Schumann!

In der Hoffnung, daß Sie diese Zeilen bei bestem Wohlsein Eintreffen, wage ich es, Sie mit einigen Zeilen und mit einer Bitte zu belästigen. Aus einer Besprechung des Berlioz’schen Requiem in einer Zeitung hier ersah ich eine Bemerkung, die Schumann <nach> über das Offertorium dieses Werkes gemacht haben soll. Diese Bemerkung war übersetzt „That beats all.“ Ich |2| finde zu meinem großen Leidwesen in Schumann’s Werken keinen Aufsatz über das Berlioz’sche Requiem und nachdem ich dasselbe gestern hier habe aufführen hören (nach der Originalpartitur mit den 4 Orchestern) fühle ich mich so niedergeschlagen von so vielem unendlich Unschönen und Gesuchten, daß ich fast eine schlaflose Nacht davon hatte. Ich dachte fortwährend an die Bemerkung Schumanns und habe ein unendliches Verlangen, zu wissen, was Schumann über das Werk gedacht und geurtheilt hat. Denn wenn Schumann das Werk hochgehalten hat
und schön und bedeutend gefunden, |3| so würde ich nicht ruhn, bis ich seine Meinung zu meiner eigenen gemacht. Einstweilen hat mich das Werk sehr traurig gemacht. Ich fand es gar so bizarr und ungesund und wie gesagt, die Bemerkung „That beats all“ macht mich ganz unglücklich. Bitte, verehrteste Frau, erlösen Sie mich von dieser Bedrängnis. Sie werden sicher wissen, wie Ihr verklärter Gatte über das Berlioz’sche Requiem gefühlt hat. Bitte lassen Sie es mich wissen und schreiben Sie mir eine Zeile darüber! Ich werde Ihnen unendlich dankbar sein. – Meine Concerte hier gehen leider bald zu Ende. |4| Am 11. März schließe ich mit der 9ten Sinfonie. Am 25ten Februar <mache> gebe ich die Manfred Ouvertüre und am 4. März die B-dur Sinfonie. – <o>Op. 52 war hier fast neu und hat einen ganz außerordentlichen Erfolg gehabt. Die C-dur Sinfonie op 61 ging ganz wundervoll und was hätte ich nicht darum gegeben, wenn Sie hätten zuhören können. In keinem amerikanischen Orchester sind Trompeten, man spielt auf Cornets, und die Idee, die herrlichen Es-mol Accorde in der Manfred Ouvertüre von Cornets gespielt zu hören, war für mich so unerträglich, daß ich vor ungefähr einem Monat drei wirkliche, schöne Trompeten habe bauen lassen, die ersten u. einzigen in America.10 |5| Dieselben sind soeben fertig geworden und ich kann nun die Aufführung der Manfred Ou­vertüre kaum erwarten. – Vorgestern habe ich die Brahms’sche Rhapsodie zum ersten Male aufgeführt und nächsten Sonnabend wiederhole ich das Werk. (Bei neuen Werken thue ich das stets.) Es war ganz wundervoll. Der erste Einsatz des Männerchors mit der Altstimme „Ist auf deinem Psalter“ machte eine tiefe Wirkung auf mein vorzügliches Publicum. Meine Programme sind nicht zu lang und noch nie ist es vorgekommen, daß von den 2 500 Menschen mehr als ein halbes Dutzend die Halle verlassen, ehe der letzte Ton vorüber. Wenn nur Boston nicht gar so weit von Deutschland wäre! – – – Es wird Sie vielleicht interessiren, die Aufstellung meines Orchesters zu kennen. Dieselbe – Brahms schrieb mir sehr ermutigend darüber – hat sich sehr erfolgreich bewiesen. Sie müssen Sich denken, daß das ganze Orchester sich amphitheatralisch aufbaut, so daß die Trompeten z.B. fast 4 Fuß höher sind als die Geigen. – – Meine Frau läßt sich Ihnen auf das Beste empfehlen. Wie gern möchten wir diesen Sommer wieder nach Deutschland gehen; aber wir müssen uns diese Freude bis zum nächsten Jahre aufsparen und dann will’s Gott – kommen wir zu Dreien! Verzeihen Sie diesen langen Brief, verehrteste Frau und seien Sie versichert, daß eine baldige freundliche Antwort auf meine Frage über das Berliozsche Requiem mich sehr glücklich machen wird.
Mit herzlichem Gruße für Sie und die lieben Ihrigen

Stets Ihr
verehrungsvoll ergebener
Georg Henschel

  Absender: Henschel, George (665)
  Absendeort: Boston
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 7
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Jenny Lind-Goldschmidt, Wilhelmine Schröder-Devrient, Julius Stockhausen, Pauline Viardot-Garcia und anderen Sängern und Sängerinnen / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Jelena Josic, Thomas Synofzik, Anselm Eber und Carlos Lozano Fernandez / Dohr / Erschienen: 2023
ISBN: 978-3-86846-018-6
158ff.

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 4,159
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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