23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 18719
Geschrieben am: Sonntag 15.01.1893
 

Liebe, hochverehrte Frau!
Da ich schuld bin an der Vervielfältigung Ihres Jugendbildes von Fechner, so muß ich ein „Vorwort“ dazu schreiben. Ich weiß, daß Sie es durch den guten Richard Schöne erhalten haben, der mir eine Weihnachtsfreude damit bereiten wollte. Es war aber nicht so arg mit dieser Freude, – ich mußte mit dem guten Willen fürlieb nehmen – die dumme Lithographie reicht dem Original nicht das Wasser. Sie werden sich über mein Entzücken höchlichst verwundert haben. Nein, über diese Copie wäre ich nicht so vergnügt gewesen; gerade der Jugendreiz u die unbeschreibliche Lieblichkeit u Unschuld des Originals ist durch den Lithographen nicht herausgekommen. Ob eine Wiedergabe in Photographie nicht geglückt ist, hat mir |2| Schöne nicht geschrieben; – wer wird denn überhaupt jetzt lithographiren lassen! Ich würde ihn gern um den Grund fragen – aber, wie’s im Volksmunde heißt, „einer geschenkten Orgel sieht man nicht in die Gorgel“ – u so kann ich ihm nur danken, mache mir aber Luft, indem ich mich gegen Sie, beste Frau Schumann, ausspreche.
Gott sei Dank, daß es Ihnen wieder besser geht! – Wir gehen ja nun schon dem Frühling entgegen, trotz der 20 Grad Kälte, die ich heute früh an meinem Thermometer mit Schreck u doch mit einer Art von Vergnügen sah, daß man bei jedem ungewöhnlichen Ereigniß empfindet, zuweilen sogar bei einer Feuersbrunst wenn sie recht groß u schön ist. Oder sind Sie zu gut dazu, solche Narrheit zu empfinden? –
Wir haben jetzt schöne Zeit in Leipzig |3| gehabt. Joachim war da, spielte Mozart, Gade u Bach wie nur Er es kann. Prinz Reuss führte seine sehr hübsche Sinfonie im Gewandhaus auf, u war glücklich. Herzogenberg kam dazu her u hörte sich sein Quintett an in dem Kammermusikabend, u beide Werke fanden großen Beifall. Außerdem probierten wir auch noch eine neue Cantate von ihm, eine Art deutscher Totenmesse mit selbstgewähltem Text aus der Bibel. Er schrieb sie in unglaublich kurzer Zeit über Weihnacht u Neujahr, u half sich damit hinweg über die Erinnerungstage des schrecklichen Verlustes. Helene Hauptmann durften wir während dem bei uns haben; es geht sehr gut mit den beiden „Geschwistern“, u Gott sei Dank, es giebt doch keine so böse Zunge, die Etwas darüber sagte. – Nun, dieses neuste Werk scheint mir wirklich das Allerbeste von dem lieben Herzogenberg zu sein. In den letzten |4| zwei Jahren schreibt er von Opus zu Opus in einem großen Crescendo vorwärts; es ist wirklich u wahrhaftig allemal das letzte Werk noch besser u schöner als das vorletzte. Astor – (Rieter Biedermann) wird es himmelangst wegen der Fruchtbarkeit, – er steckt sein ganzes Vermögen in Herzogenberg, denn trotz der Verehrung u Bewunderung die man für seine Werke hat, kauft sie doch fast Niemand. –
Auch die Utrechter Engelmanns waren hier; „Emma“ spielte schöner als je Sie ist würdig, Ihre Nachfolgerin zu heißen. Heute sind sie Alle abgereist. Auch die Amsterdamer Röntgens waren hier, Amanda ganz hergestellt, die Kinder wonnig, natürlich schauderhaft musikalisch.
Verzeihen Sie meine Plauderei!
In alter Liebe u Verehrung
Ihre
Hedwig v. Holstein.
Leipzig 15n Jan. 1893.
Das Fregesche Haus einreißen zu sehen war mir fast unerträglich. Ich habe auf der Straße geweint! 5 Bauplätze macht das „arme“ Arnoldchen18 daraus!

  Absender: Holstein, Hedwig von, geb. Salomon, Hedwig (734)
  Absendeort: Leipzig
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort: Frankfurt am Main
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 21
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Korrespondenten in Leipzig 1828 bis 1896 / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Annegret Rosenmüller, Eva Katharina Klein und Ekaterina Smyka / Dohr / Erschienen: 2025
ISBN: 978-3-86846-031-5
510-513

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 6,156
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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