23.01.2024

Briefe



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ID: 18863
Geschrieben am: Freitag 12.12.1879
 

Breslau d. 12 Dcbr. 79.
Hochverehrte Frau!
Die Uebersendung meiner Güntherstudie, die Ihnen völlig uninteressant sein wird, da ich sie ausschließlich für den Literarhistoriker von Fach geschrieben habe, soll mir nur zum Vorwande dienen um Sie auf schickliche Weise Ihres gütigen Versprechens zu erinnern. Entschuldigen Sie meine Ungeduld mit meinem Eifer für unsere Sache und nehmen Sie mein Buch und das darin liegende Concertreferat nicht unfreundlich auf. Sie halten nun einige Fragmente meines |2| schriftstellerischen Wesens in Händen, und ich hoffe, daß der Mensch, welcher in ihnen sich ausspricht, Ihrer Teilnahme und Ihres Vertrauens nicht unwürdig erscheinen werde. Sobald Sie sich entschlossen haben mir die in Aussicht gestellte Arbeit zu übertragen, will ich mich sofort mit Breitkopf u. Härtels und mit Paul Heyse in Verbindung setzen, um die materielle Frage möglichst bald zu erledigen. Alsdann könnte beifolgender Aufruf in eine oder zwei vielgelesene Zeitungen eingerückt werden, und ich käme nach Ablauf der musikalischen Saison zu Ihnen um Alles gründlich mit Ihnen durchzusprechen und Ihre Meinungen und Wünsche im Einzelnen kennen zu lernen. |3| Halten Sie es für geboten, daß der Aufruf auch von der Verlagshandlung unterzeichnet werde, oder scheint Ihnen eine veränderte Fassung desselben notwendig, so bitte ich mir Ihre Vorschläge mitzuteilen. Gleich nach der Veröffentlichung der Annonce werde ich eine Notiz über dieselbe bei allen möglichen Journalen circuliren lassen, damit unser Vorhaben ohne weitere Kosten allgemein bekannt werde.
Fürs Erste bitte ich um das Wichtigste: um Ihre Zusage als das kostbarste Weihnachtsangebinde für
Ihren
in ehrfurchtsvoller Verehrung
Ihnen treu ergebenen
Max Kalbeck

|5|
An die untergehende Sonne.
Laß mich erwarmen noch an deinen Gluten,
Eh’ du hinabtauchst in das heil’ge Meer,
Und wirf mir über die bewegten Fluten
Den letzten deiner Stralengrüße [sic] her!
Aus jenen Wolken, die, gewitterträchtig,
Die Nacht als Boten schon vorausgeschickt,
Blickst du hervor, o Sonne, groß u. prächtig,
Wie eine Herrscherin im Scheiden blickt.
Unsterblich bist du! Seine gold’nen Thore
Hält dir der Ost zur Wiederkunft bereit,
Stolz hebst du dich aus deinem Witwenflore
Zu heit’rem Glanze, Königin der Zeit!
Vor deinem Wagen fliegen, neu geboren,
Mit frischen Kränzen froh die Stunden hin,
Im leichten Tanz der Grazien und Horen
Wirst du noch schweben, wenn ich nicht mehr bin.
|6| Bald hält mich tiefe Finsternis gefangen,
Aus der kein Morgen mir entgegenglüht,
Des Menschen Leben ist so schnell vergangen,
Der Blume gleich, die einen Frühling blüht;
Doch ziemt es nicht zu trauern u. zu klagen
Im Angesichte Deiner Majestät,
Ich weiß, es lebt Ein Tag in allen Tagen,
Der in Jahrtausenden nicht untergeht!
Du, Sonne, ließest mich sein Licht erschauen.
Vom Dunkel hast du mich emporgeführt,
Ich folg<t>e dir mit seligem Vertrauen
Und preise dich, im Innersten gerührt.
Im Staube, der sich wölkt zu meinen Füßen,
Sei dir die letzte Huldigung gebracht –
Fahrwohl, du schöner Stern! Die Todten grüßen,
Und ihre Schatten senkt herab die Nacht.
[Beilage 1]
Feuilleton.
Orchester-Verein.
– Dinstag, 18. November.

Im 3. Abonnements-Concert war die Parole: Clara Schumann.
So oft diese unvergleichliche Künstlerin in Breslau erscheint – und Breslau kennt sie bereits seit vier Decennien – herrscht im Concertsaal eine festliche Stimmung. Das Auditorium weiß im voraus, daß ihm ein auserlesener Kunstgenuß zu Theil werden wird. Und so geschah es auch diesmal. Das Erscheinen der Frau Cl. Schumann wurde von dem überfüllten Saal mit stürmischem Jubel und von Seiten der Kapelle mit einer rauschenden Fanfare begrüßt.
Man darf Clara Schumann ohne Uebertreibung als eine der wunderbarsten Erscheinungen in der gesammten Kunstwelt bezeichnen. Ueber ein halbes Jahrhundert verkündet sie die erhabensten Schöpfungen der großen Tondichter auf dem Clavier in öffentlichen Aufführungen, und die Welt wird nicht müde, sie zu bewundern und zu preisen, und noch sehen wir sie mit freudigem Erstaunen in voller Kraft und Rüstigkeit als Herrscherin im Reich der Töne wirken und schaffen. Clara Josephine Wieck wurde am 13. September 1819 zu Leipzig geboren, hat also jetzt ein Alter von 60 Jahren erreicht. Neun Jahre alt, im October 1828, ließ sie sich zum erstenmal in einem öffentlichen Concerte hören, zehn Jahre später war sie eine Künstlerin von europäischem Rufe. Im Jahre 1840 vermählte sie sich mit Rob. Schumann. Viel Freude und viel Leid ist ihr beschieden gewesen, aber bei allen Wandelungen und trotz aller herben Schicksalsschläge ist ihre reine, große Künstlerseele stark und mächtig geblieben, und mit aufrichtiger Verehrung blicken wir zu der Frau empor, die unter allen Lebensstürmen das künstlerische Ideal so rein, ungetrübt und mit solcher Ausdauer zu wahren verstanden. Clara Schumann hat sich nie zu Concessionen an die Launen des Publikums herbeigelassen, ist niemals die Bahnen des effecthaschenden Virtuosenthums gewandelt. Ihr Dienst galt der Kunst in ihrer vollsten Reinheit, sie wollte Interpretin der Meisterwerke unserer Tonheroen sein, und wie sie dieses priesterlichen Amtes gewaltet, das weiß die Welt und erkennt es aller Orten an. Clara Schumann ist die echte und wahrhafte Aristokratin in der weitverzweigten Familie der Clavierkünstler, ihr Spiel verschmäht jeden blendenden Effect und fesselt lediglich durch Großheit des Stils, Tiefe der Auffassung, Adel und Ebenmaß des Ausdrucks. Man vergißt bei diesem Spiele die Pianistin und hört blos das Werk – ein Vorzug, der geradezu als „einzig“ zu bezeichnen wäre. Dies ungefähr war der Eindruck, den wir von dem Vortrag des vierten Beethoven’schen Clavier-Concerts (G-dur) empfingen, jenes herrlichen Werkes aus der freudenfestlichen Periode des Componisten (1808), eine Dichtung, „die in der Reihe der Concerte nicht ihres Gleichen hat, ein Concert, von einem Tondichter geschrieben und nur ein Tondichter ist würdig es vorzutragen“. Clara Schumann ist dieser würdige Tondichter, das haben wir wohl an diesem Abend Alle auf das Lebhafteste empfunden. Die Künstlerin spielte nächstdem die Novellette (H-moll) und die entzückende Romanze (Fis-dur) von Schumann, sowie das Capriccio (Fis-molI) von Mendelssohn. Daß es nach sämmtlichen Piecen nicht an Beifall und wiederholten Hervorrufen fehlte, braucht wohl kaum erst erwähnt zu werden.
Die übrigen Gaben des Abends bestanden erstens in einer Serenade für Blasinstrumente, Cello und Baß von dem in neuerer Zeit vielgenannten slavischen Componisten A. Dvorak. Die Composition ist nicht ohne Originalität und im 2. Satze namentlich von sehr ansprechender Melodik, scheint uns aber zu weit ausgesponnen und das übliche Maß der Serenade weit zu überschreiten. Die Geliebte, an welche bei solcher Gelegenheit das Ständchen gerichtet ist, das Publikum nämlich, wird gar zu leicht ungeduldig, wenn der Verehrer zu weitschweifig wird. Ferner hörten wir Mendelssohns „Hebriden-Ouvertüre“, in schwungvoller Ausführung und zum Schlusse Schumanns bekanntes Werk „Ouvertüre, Scherzo und Finale.“ Dasselbe datirt aus dem Jahre 1841, wo Schumann sich mit den großen symphonischen Formen der Instrumentalmusik zu befassen begann, und es kam in einem Concerte von Clara Schumann im Gewandhause zu Leipzig im December 1841 zur ersten Aufführung. Unsere diesmalige Aufführung konnte als eine der gastirenden Künstlerin dargebrachte Huldigung gelten, über die sie gewiß bei der vorzüglichen Ausführung des Werkes die innigste Freude empfunden haben wird.
M. K.

[Beilage 2]
Drittes Concert des Orchester-Vereins.
Mit Frau Clara Schumann feiern wir musikalische Feste. Eine Künstlerin wie sie, die nur zu erscheinen braucht, um alle Herzen zu gewinnen, giebt keine Concerte mehr – sie läßt sich welche geben. Wenn sie dann sich an’s Clavier setzt und uns „ihren“ Beethoven oder Schumann spielt, so betrachten wir dies als eine ganz besondere Liebenswürdigkeit von ihrer Seite und sind um ein passendes Dankeswort in geziemender Verlegenheit. Jedes Lob wäre hier geschmacklos; die höchste Anerkennung hat wie die höchste Freude und der höchste Schmerz keine Zunge im Munde. Da ist der Kritiker der überflüssigste Mensch von der Welt. Er beneidet den bevorzugten Chapeau d’honneur,15 welcher der verehrten Frau Shawl und Noten nachträgt, ihr den Sessel zurecht rückt und ihr schließlich mit einer schüchternen Verbeugung den verdienten Lorbeerkranz überreicht.
Mehr vermöchten auch wir beim besten Willen nicht zu thun. Im Herzen klingt uns noch das Beethoven’sche G-dur-Concert nach mit der wunderbaren Zwiesprache seines „großgeheimnißvollen“ Adagios und dem brausenden Jubel seines Schlußrondos, das die Sterne tanzen läßt; und überall hin verfolgt uns der bestrickende, unter Thränen lächelnde Gesang der Fis-dur-Romanze. Dieses einzig schöne Stück würde Robert Schumann nicht componirt haben, hätte er seine Clara nicht gekannt; denn in seiner bräutlichen Melodie ist die vom Irdischen losgelöste liebevolle und reine Frauenseele eingeschlossen, welche die begeisternde Muse seiner tiefsten Tonschöpfungen werden sollte. Sie leuchtet noch immer von Augen und Wangen, der Verlassenen, sobald sie die unsterblichen Geister der Vergangenheit aus den Saiten heraufbeschwört; der Schleier fällt über die Außenwelt, „da hab’ ich Dich und mein vergang’nes Glück, Du meine Welt!“ Und dann sehen wir auch nicht mehr die Frau von sechszig [sic] Jahren vor uns, sondern den ewig jugendlichen „Engelskopf Chiara’s, der dem einer sogenannten Clara, bis auf den Schalkzug um das Kinn, mehr als ähnlich sieht.“ (S. Rob. Schumann’s Schriften I. p. 111.)
Um aus dem Tone der „Schwärmbriefe“ auf kürzestem Wege in ein nüchternes Deutsch wieder zurückzukommen, erwähnen wir die Thatsache, daß am Dinstag zweimal gezischt wurde; und zwar einmal mit Recht und einmal mit Unrecht. Durch die allzu große Gefälligkeit unserer Künstler verwöhnt, glaubt das Publikum allmälig sich ein Privilegium auf eine Zugabe oder Einlage erklatscht zu haben. Darum ruhte man nach dem Vortrage des Mendelssohn’schen Fis-moll-Capriccio’s nicht eher, bis einige Verständige dem bei einer älteren Dame wie Frau Schumann ziemlich ungebührlichen Dacaporufen durch Zischen ein Ende machten. Das andere Mal wurde nach dem dritten Satz einer neuen Serenade von A. Dvorák gezischt und auch nach dem Finale desselben Werkes der Versuch gemacht, die spärlichen Beifalls-Aeußerungen einiger musikalischen Seelen zu unterdrücken. Und doch lag weder in der Composition noch in deren Ausführung eine gegründete Veranlassung zu einem derartigen Strafgericht vor. Am allerwenigsten hätten wir dem bedeutungsvollen und melodiösen Andante dieses klägliche Schicksal prophezeit. „Es ist“, um mit Hamlet zu reden, „wie ich es nahm und Andere, deren Urtheil in solchen Dingen den Rang über dem meinigen behauptet, ein vortreffliches Stück, in seinen Scenen wohlgeordnet und mit ebenso viel Bescheidenheit als Verstand abgefaßt.“ Leider also: Caviar für das Volk.
A. Dvorák hat seine D-moll-Serenade für Blasinstrumente (2 Oboen, 2 Clarinetten, 2 Fagotte, Contrafagott, 3 Hörner, Violoncell und Contrabaß) dem bekannten feinsinnigen Musikschriftsteller Louis Ehlert gewidmet, welchem er die Einführung seiner Compositionen in Deutschland verdankt. Ehlert entdeckte das originelle musikalische Talent des böhmischen Autors und machte in der „Nationalzeitung“ zuerst auf ihn aufmerksam. Dvorák’s Begabung wurzelt im Boden der Volksmusik; seine Themen sind schlicht und natürlich, zuweilen, wie im ersten Satze der Serenade, etwas zu dürftig und trocken, und manchmal allzu derb, wie im Finale. Immer aber erwecken sie das sympathische Gefühl der Ursprünglichkeit und des Selbstempfundenen im Gegensatz zu vielem mühselig angelernten und nachgemachten Zeuge, das den Leuten erfahrungsgemäß weit glatter und schmackhafter eingeht. Noch nicht völlig abgeschliffene, aber doch keine böhmischen Diamanten. Daß der Componist überdies fleißig bei den großen Instrumentalisten, unter den Neueren insbesondere bei Johannes Brahms in die Schule gegangen, zeigt die Partitur seiner Serenade auf jeder Seite. Ueberall finden sich schöne Klangwirkungen, die den Kenner der Instrumentationskunst verrathen. Wie lieblich ertönt der von den Clarinetten begonnene, von den Oboen übernommene Gesang in der Menuett (F-dur) über der Staccato-Begleitung von Fagotten und Violoncells; wie lustig wirbelt die Sechsachtelfigur mit ihrem Terzentriller von den pizzicirenden Bässen im Presto des Trios empor, und wie zärtlich schmeichelt, lockt und wirbt das Alternativ der Clarinette und Oboe im Anfange des Andante con moto (A-Dur)! Der Schluß dieses musikalisch am Reichsten bedachten, vortrefflich gearbeiteten Satzes mit der schönen Ritardandostelle der Hörner vor den beiden Halten und dem in Gegenbewegung pianissimo ausklingenden Abschiede gehört zu den glücklichsten musikalischen Einfällen, die wir kennen. Die schwächste Seite des Werkes bietet das Moderato quasi Marcia des ersten Satzes, welches im Finale noch einmal wiederholt wird. Letzteres selbst darf für ungarischen Import angesehen werden, in Böhmen wird dieser Czardas kaum gewachsen sein. – Für einen Cardinalfehler des Ganzen halten wir die bei aller möglichen Nüancirung im Detail nicht zu beseitigende Eintönigkeit des Grundcolorits, das, durch die ausschließliche Wahl der Blasinstrumente für die leitenden Stimmen in einem eigenthümlichen Clairobscur gehalten, scharfe Gegensätze unbedingt von sich ausschließt. An der schönsten Mondscheinlandschaft sieht man sich in einer halben Stunde satt, wenn man nicht gerade verliebt oder mondsüchtig ist.
Mit der delicaten Ausführung des interessanten Werkes hat der Bläserchor des Orchesters und Herr Bernhard Scholz sich alle Ehre eingelegt, und schon diese Leistung hätte einen ungemischten Applaus ohne Frage verdient. Das volle Orchester war in Mendelssohns zauberisch-schöner Hebriden-Ouvertüre und in Schumanns verschämter, „Ouvertüre, Scherzo und Finale“ benannten, frisch lebendigen Sinfonie Feuer und Flamme und entließ die Zuhörer in der angeregtesten Stimmung.
Max Kalbeck.

[Beilage 3]
Kammermusik.
„Freilich, dies nun Alles von ihr selbst zu hören! Weiß man doch selbst nicht, wie Einem da oft geschieht! Kann man sich da oft kaum denken, wie so etwas mit Zeichen dargestellt, aufgeschrieben werden könne! Ist dies doch wieder eine ihr angehörige, erstaunliche Kunst, über die sich ganze Bücher hören ließen! Ich sage „hören“ und bin weise geworden! Unsern Davidsbündlerkräften mißtrauend, baten wir z. B. neulich einen guten Kenner, uns etwas über die Eigenthümlichkeit des Vortrags dieser Virtuosin für die Zeitschrift zu schreiben; er versprach es, und nach zwei Seiten Abhandlung kam’s richtig am Schluß: „es wäre wünschenswerth einmal etwas Begründetes über die Virtuosität dieser Künstlerin zu erfahren u.“ Wir wissen, woran er gescheitert ist, und weshalb wir auch hier abbrechen: es läßt sich eben nicht Jedes in Buchstaben bringen.“
So berichteten „Florestan und Eusebius“ am 12. September 1837 über Clara Wieck zur Vorfeier ihres Geburtstages in der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Was in Worten unausgesprochen blieb, wollte Robert Schumann in den Tönen seiner in demselben Jahre entstandenen „Davidsbündler“ offenbaren. Sie sind klingende Geheimnisse, voll der zartesten und intimsten Beziehungen zu der geliebten Künstlerin, vieldeutige Hieroglyphen, deren Verständniß nur dem Eingeweihten aufgeht, wenn ihre Bilderschrift unter berufenen Händen lebendig wird.
Das zweitaktige C. W. überschriebene Motto aus Clara Wieck’s „Soiréen“ (op. 6) giebt den Davidsbündlern das Alarmsignal;21 sie treten auf in den glänzenden Waffen des Geistes und der Phantasie, mit der idealen Begeisterung ihrer schönheitstrunkenen Herzen und fordern übermüthig und siegesgewiß die klügelnde und kalte, scheelsüchtige und beschränkte Philisterwelt zu einem Tanze heraus, daß ihr die Schlafmützen und Perrücken vom bedächtigen Schädel fliegen.
Kniet nieder in den Staub, ruft der zornflammende ungestüme „Florestan“, und betet die heilige wahre und echte Kunst an, die Göttin mit dem olympischen Lächeln stolz geschürzter Lippen, mit dem Sternenblick unergründlicher Augen, mit der Strahlenkrone auf der gebieterischen Herrscherstirn; – demüthiget Euch vor dem Antlitz, das Ihr zur Fratze machen wolltet, schlagt an Euere hohle empfindungsleere Brust, thut Buße und bekennt, daß Ihr erbärmliche Sünder und Stümper seid, welche des Ruhmes ermangeln!
Und dazwischen beginnt der träumerisch sanfte, still in sich versunkene „Eusebius“ sein sehnsüchtiges inneres Singen, das ihm das Herz zersprengen möchte. Aus den dunkeln Fluthen seines abgrundtiefen Gemüthes taucht die duftige Räthselblüthe, die Passionsblume seiner Liebe empor, die den keuschen schüchternen Kelch nur zu nächtiger Weile dem verschwiegenen Mondlicht öffnet. Dann entschwebt ein zarter Elfe mit Libellenflügeln den entfalteten Blättern, die Saiten seiner kleinen goldenen Leier erklingen, und der süße Name „Chiarina“ haucht durch die Stille der Nacht.
Aber schon zuckt es schmerzlich um Florestan’s Lippen, die nüchterne Welt will ihn nicht hören und zieht sich die Schlafmütze wieder über beide Ohren, mag Eusebius noch so schön in sich hinein träumen und singen. Nur Eine versteht sie beide ganz und weiß, daß die zwei Seelen in der treuesten Brust wohnen: Clara Wieck nimmt liebevoll die Huldigungen Robert Schumann’s entgegen und wird die Seine.
Solches erzählte uns das unvergeßliche Spiel der Frau Clara Schumann, die am Freitag im Musiksaale die achtzehn Davidsbündler-Tänze (mit Ausnahme der Nummern 3, 6, 10 und 15) und Beethoven’s große A-dur-Sonate op. 101 in ihrer bekannten, nur ihr eigenthümlichen selbstlosen und schlichten unvergleichlichen Weise vortrug. Wir haben Beethoven in seiner innigsten Empfindung wie in seiner titanenhaften Entschlossenheit, mit welcher die gewaltige Fuge des letzten Satzes „in die Wolken ausgreift“, vollendeter noch nie gehört und werden ihn kaum wieder so hören, wenn nicht von Frau Schumann.
Zwischen den beiden stolzen Palästen der Claviermusik lag Schubert’s spielseliges G-dur-Quartett (von den Herren Himmelstoß, Garbe, Trautmann und Melzer vorzüglich wiedergegeben) wie ein herrlicher Garten voll bunter duftender Blumen, die alle Wege überwuchern. Kein dürres Fleckchen Erde mehr, und auch kein Gras, nur lauter blühende Hecken und Ranken!
Max Kalbeck.

  Absender: Kalbeck, Max (785)
  Absendeort: Breslau
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 4
Briefwechsel Clara Schumanns mit Maria und Richard Fellinger, Anna Franz geb. Wittgenstein, Max Kalbeck und anderen Korrespondenten in Österreich / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz, Anselm Eber und Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2020
ISBN: 978-3-86846-015-5
604-612

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 3,412
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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