Aflenz i. d. Steiermark, d. 21. Juni 1882.
Hochverehrte Frau!
Obwol noch immer kopf- und magenleidend, doch aber auf dem Wege der Besserung, benutze ich einen erträglichen Vormittag um Ihnen einen kleinen Teil der Gedanken und Empfindungen zu übermitteln, welche seit Ihrem letzten Schreiben mein Inneres durchwühlen.
|2| Wenn Sie eine Vorstellung von dem nachhaltigen bitteren Schmerz hätten, den Sie mir zugefügt, so wäre, wie ich überzeugt bin, mir die Kränkung in so liebloser Weise beurteilt und behandelt zu werden, wol erspart worden. Es ist gut, daß das Maß, welches ich bei meiner jetzigen Reizbarkeit ertragen konnte, so weit überschritten worden, daß ich mich unfähig fühlte Ihnen gleich auf der Stelle zu erwidern; denn es wäre mir manches Wort entfallen, das ich später zu bereuen gehabt hätte.
|3| Bei Ihren Erwägungen, deren Stichhaltlosigkeit und Hinfälligkeit ich Ihnen sogleich darthun werde, haben Sie vor Allem Eines außer Acht gelassen, nämlich das, daß Sie einer gemeinschaftlichen Unternehmung gegenüber nicht mehr die absolute Herrin Ihrer Entschlüsse sind. Auch der andere Teil will gehört werden. Wäre ich der gewöhnliche Lohn- und Zeitungsschreiber, für welchen Sie mich zu halten scheinen, so sagte ich vielleicht, Ihnen zustimmend, heute: „Gut, Sie stehen von Ihrem ursprünglichen Vorhaben, |4| durch irgend welche thatsächlich vorhandenen oder eingebildete Motive bewogen, bis auf Weiteres ab, nachdem Sie mir zwei Jahre hindurch die Aussicht auf einen nicht unbeträchtlichen Gewinn gelassen haben. Sie sehen ein, daß ich dafür mit irgend einer Entschädigung „abgefunden“ werden muß, und ich nenne Ihnen eine beliebige Summe, die Sie mir als Schmerzensgeld oder als Aequivalent für die von mir nutzlos aufgewendete Zeit herauszalen.“
Somit wäre Alles in schönster Ordnung. Allerdings würde die Berechnung meiner „Spesen“, sofern ich eine solche für mich |5| aufstellen wollte, höchst wunderlich ausfallen. Ich müßte eine Anzal schwer zu bewertender ungethaner geistiger Thaten, ferner die vielen unwiederbringlich verlorenen Stunden, die ich außer an die Sache selbst auch an die Herbeischaffung und Ordnung aller möglichen Hilfsmaterialien gewendet, und endlich gar den unglückseligen Feuilleton-Redacteur Ihnen auf die Rechnung setzen. Der letztere allein würde eine kleine Leibrente für mich abwerfen; kein fürstliches Vermögen aber würde ausreichen mir auch nur die Hälfte der |6| unsterblichen Dichtungen, die ich seit zwei Jahren nicht gemacht habe, zu ersetzen… Ach Gott, ich vergesse ganz und gar, daß es einem Lohnschreiber meiner Art keineswegs ansteht mit so ernsten Brodangelegenheiten seinen Spaß zu treiben. Nicht nach seinen etwa vorhandenen Talenten und seinem redlichen Willen, sondern nach der Zeile wird er bezalt, der arme Teufel!
Aber bin ich wirklich die armselige Creatur, zu der ich mich selbst erniedrigen würde, wenn ich Ihnen Recht gäbe und Ihr Anerbieten annähme? |7| Habe ich nur eines künftigen Gewinnes wegen meinen eigenen Vorteil vernachläßigt? Dann könnte ich mich ja nun mit etwas Gegenwärtigem trösten lassen, und meine Zukunft wäre gekommen. Es muß also doch wol etwas Anderes gewesen sein, das mich angetrieben hat, alle meine sonstigen Nebenbeschäftigungen – in Wahrheit meine Hauptbeschäftigungen – liegen zu lassen und auch den redactionellen Posten als letztes Hemmnis aus dem Wege zu räumen. (Letzteres war schon geschehen, bevor Ihr Schreiben eintraf.) Ich glaube, daß die Ursachen für eine |8| solche Handlungsweise nur darin liegen, daß ich nicht mein eigenes, sondern das Interesse der mir übergebenen Sache im Auge behalten habe; und dieser Umstand deutet auf einen Menschen von künstlerischen Bestrebungen und Ueberzeugungen hin, auf einen zwar oft getäuschtten [sic], dennoch aber nicht umzubringenden Idealisten hin, der ich zu sein mir
schmeichle. Auch heute achte ich diese und andere Opfer für nichts, sondern freue mich sie auf einem so würdigen Altare dargebracht zu haben, wie ihn meine Verehrung für Sie und Ihren verklärten Gatten errichtete. |9| Daran aber dürfen Sie mir nicht rütteln wollen und mir nicht Mangel an Hingebung vorrücken, als käme es mir nur darauf an aus allen Ecken der Welt etwas Äußerliches zusammenzutragen, wie es die gewöhnlichen Biographen und Philologen – den auch von mir hochgeschätzten Spitta nicht ausgenommen – zu thun pflegen: „ohne innere Notwendigkeit.“ Wenn das Buch des Herrn Jansen, dem ich nicht mehr geantwortet habe, weil es mir unangenehm war, ihn, der nur wertvolle Documente von mir herausbringen wollte, immer mit Redensarten abzuspeisen, – |10| wenn dieses Buch nicht mehr enthält als der Spitta’sche Essay, so sollte es mir aufrichtig leid thun. Soviel er mir geschrieben, will der Verfasser <sich> überhaupt nur auf den Davidsbund sich einlassen, mit besonderer Berücksichtigung der Zuccalmaglioschen Aufsätze, und seine Arbeit bliebe dann auch nur wieder schätzbares Material für den wirklichen Schumann-Biographen. Spitta hat vieles Verständige und Zutreffende und wol auch einiges Unverständige gesagt, dagegen außerordentlich wenig Neues und Interessantes beigebracht, was auch nicht einmal in seiner Absicht lag, |11| da sein Werkchen einen ausgesprochenen didaktischen Zweck verfolgt und erfüllt. Die Art, wie Spitta mein Feuilleton „Schumann in Wien“ benutzt hat, bringt mich immer wieder zum Lachen. Daß Schumann, nach der Behauptung des Verfassers p. 31, mit der Feder, die er auf Beethoven’s Grabe gefunden, die ganze B-Dur-Symphonie und außerdem noch den Aufsatz über Schubert geschrieben haben soll, klingt, als ernsthafte Thatsache vorgebracht, gar zu komisch. Auf diese riesig solide Stahlfeder sollte Spitta ein Patent nehmen. Die von mir in apodiktische Form gekleidete Metapher hat der an eine bilderreiche Schreibart nicht gewöhnte Professor für bare Münze genommen. |12| Was ich an Spittas Lebensbilde vermisse, ist gerade das, worauf es mir anzukommen scheint: die Wärme und Unmittelbarkeit der Darstellung, vermöge deren der Leser so intim berührt werden muß, als blättere er in Erinnerungen an Selbsterlebtes.
Ein einziger von schwärmender Jugendglut erfüllter Brief Schumanns schlägt zehn solche abgeblaßte Lebensbilder aus dem Felde, in welchen Tinte, aber kein Blut fließt. Und der köstliche Briefwechsel mit der Mutter aus Heidelberg und Leipzig8 oder das Heidelberger Tagebuch, das ich zum größten Teile glücklich entziffert habe, giebt allein |13| hinreichenden Stoff für ein Werk, das der deutschen Lesewelt besser munden soll als irgend ein altegyptischer Roman aus der Gegenwart.
Lassen Sie mich gewähren, hochverehrte Frau, und entreißen Sie mir nicht wieder, was schon zu fest mit mir verwachsen ist! Denn nicht unter den Händen, sondern im Herzen wird mir jener ideale Jüngling lebendig, mit dem ich so innig sympathisire, als wäre er mein bester Freund. Der junge Schumann ist eine Figur, die neben einem „jungen Goethe“ sich sehen lassen darf; und, wenn |14| mich die Ewigen bei Gesundheit, Sie Selbst aber bei gutem Humor erhalten, so hoffe ich dieser herrlichen Gestalt noch im Laufe dieses Jahres das geziemende Piedestal zu geben. Da soll sie dann stehen, der Jugend zum Vorbilde, dem Alter zur Freude und allen hämischen Gesellen zum Aerger.
Ein freundliches Wort der Erwiderung erbittet sich
Ihr
treu ergebener
Max Kalbeck
Unter Kreuzband folgt eine Besprechung des Spitta’schen Buches,10 die ich mir zurückzusenden bitte.
d. O.