Schönefeld b. Leipzig d 11/9 94
Meine hochverehrte Freundin!
Zu melden habe ich von uns, meiner Schwester u mir, sehr wenig. Der Sommer ist mir, wenn auch seit 5–6 Wochen durch wechselvolles Wetter wenig behaglich, so doch im Ganzen ruhig u freundlich verlaufen. Ich bin fleißig gewesen, habe auch ein kleine Schrift fertig gemacht, welche neuerdings die Presse verlassen hat; psychologisch-historische Betrachtungen über den Propheten Jeremias. Wäre es nicht eine gar arge Zumuthung, Ihnen einen so fern liegenden Gegenstand zur Lectüre anzubieten, hätte ich sie Ihnen geschickt. Ich habe diese Arbeit in den letzten Lebenstagen meiner Frau begonnen und sie hat noch die lebhafteste Theilnahme dafür gehabt. Da die Schrift eine von jenen ist, die mit Herzblut geschrieben worden, können Sie denken, wie es schmerzt, dass meine arme Frau die Vollendung u überhaupt grad diesen Geburtstag nicht mehr erleben sollte. Steinthals sind alle drei seit Anfang Septbr hier u bleiben über dem 15t; ihm geht’s leidlich, Frau u Tochter gut. Jetzt aber will ich lieber dem eigentlichen Beweggrund dieses Blattes Ausdruck geben: möchte Ihr Geburtstag von Ihnen in guter Gesundheit und in freier Stimmung erlebt werden u das nächste mit noch vielen folgenden Jahren behaglichen Daseins einleiten. Wer ein so rüstiges thaten- u erfolgreiches Leben geführt hat, wie Sie, meine theure Freundin, dem ist behagliche u wohltuende Ruhe für viele Jahre zu gönnen; und wer so, wie Ihre Meisterschaft, Tausenden u aber Tausenden erhebend-glückliche seelenvoll-entzückte Stunden bereitet hat, dem sollte auch noch ein ungestört fröhliches Genießen des Lebens beschieden sein.
In herzlicher u treuer Verehrung
Ihr alter Freund
Lazarus
Meine Schwester läßt Ihnen die schönsten Grüße u Wünsche entbieten; und wir beide bitten Sie, Ihre lieben Kinder vielmals von uns zu grüßen.
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