Verehrte Frau.
Heute ist Brahms abgereist. In der letzten Stunde kam noch das Sextett; er hatte nicht mehr Zeit, Ihnen zu schreiben und beauftragte mich, es Ihnen zu senden. Ich lege noch ein Lied bei, das ich mir abgeschrieben. Sie mögen sich denken, welche Lücke seine Abreise in mir zurückgelassen.
Das ist ein Mensch! Sonst tragen alle Erdenkinder den Stempel ihrer Zeit und deren Schwächen an der Stirne; er allein vermag sich loszulösen von allen menschlichen Verhältnissen, unberührt zu bleiben von dem Schmutze und der Misere des Lebens, sich aufzuschwingen auf eine ideale Höhe, wohin wir nur ihm nachschauen, nicht ihm folgen können. Ist es uns zu bedenken, wenn uns dabei manchmal schwindelt? Er ist mit keinem Maßstabe zu messen, den wir an Unseres-Gleichen anzulegen gewohnt sind. Er sieht von souveränem Throne auf uns herab; wenn wir uns ihm nahe fühlen, ruft er uns zu: Du gleichst dem Geist, den Du begreifst, nicht wir; wir sind momentan zurück- gestoßen, verletzt, vernichtet, aber immer wieder fühlen wir uns zu ihm hingezogen mit magnetischer Gewalt. Solange solche Geister unter uns wandeln, wird der Materialismus der Zeit nicht die Oberhand gewinnen; wir wollen uns um ihn schaaren, die wir zusammengehören;
schließt den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte …
… Hier sind die Zustände keiner Verbesserung fähig; wenn ich bedenke, daß Devrient nach 16jährem Wirken so gut wie Nichts erreicht hat, so vergeht auch mir die Lust zum Reformiren.
Eigentlich musikalische Leute giebt es gar nicht; heute habe ich überlegt, mit wem ich wohl das Sextett vierhändig spielen könnte, und Niemanden gefunden …
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