23.01.2024

Briefe



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ID: 19512
Geschrieben am: Sonntag 08.07.1860
 

Colmar. 8. July.

Nur zwei Zeilen, um Ihnen zu berichten, daß meine Abreise noch verspätet ist. Es ist heute Trauer in der Familie Stock: Die Cécile reist heute ab; es soll niemand wissen, daß sie nach Besançon ins Kloster geht; der Vater begleitet sie soit disant nach der Schweiz, die Mutter bleibt noch zwei Tage hier, packt und schluchzt und weint und betet und faßt sich, so gut sie kann,|2| und verbirgt ihren Schmerz, aber früh, schon vor dem Frühstück, waren die Augen gerötet, und trotz der Vernunft machte halt Ihr ergebenster Diener mit und konnte sich nicht halten. Es ist eine harte Prüfung für die ganze Familie; wir lieben uns alle sehr und begreifen nicht, warum Cécile sich nicht glücklich zu Hause fühlt. Doch das Schmerzhafteste ist, den alten Vater weinen zu sehen. Frauen und Mädchen und junge Leute dazu, haben sehr bald feuchte Augen, besonders, wenn sie alle Musik lieben und treiben, aber wenn ein Siebziger mit schluchzender Stimme sagt, wie er oft im Stillen |3| über den Entschluß der Tochter geweint, und dann die Tränen rinnen, so wird einem das Herz weich, und man kann sich kaum mehr halten. Franz ist von Leipzig angekommen und hat Ferien, Adèle ist da, der Jüngste – Emile – auch, nur Heinrich, der Wiener fehlt, und keiner kann gegen den unglücklichen Entschluß kämpfen; es gibt vieles darüber zu sagen, doch das andere mündlich. Nun habe ich noch eine Pflicht zu erfüllen; ich mag meinen alten Vater nicht allein mit Cécile reisen lassen. Mutter braucht die Hilfe des Franz, um hier alles vor der Abreise in Ordnung zu bringen; ich muß also als Ältester die schwierigste Rolle übernehmen und gerne, wie Sie’s wohl begreifen. Sind wir doch den Eltern so viel schuldig und können unsere Schuld nur durch Liebe abzahlen! Wenn ich meine Mutter wiedersehe, denke ich an Sie, liebe Frau Schumann; auch sie hat ein weiches Herz, ein zartes Gemüt u hat nur die Religion um dagegen zu kämpfen, die Gnade
Gottes, wie sie sagt; aber diese Gnade besteht eben aus dem Verstand den uns Gott seit ewigen Zeiten verliehen, seit er uns geschaffen u wir müßen wollen u haben sodann – die Gnade! Wir tragen sie in uns!!! Adièu, lesen Sie fleißig u nehmen Sie ein Abonnement – es kostet nur 1 Th. per Monat. Bald sehn wir uns!

Ihr ergebenster Freund
J Stockhausen

Heute Ab. schlafen wir in Belfort. Morgen früh sind wir in Besançon;
uebermorgen kehre ich zurück, reise aber erst dann ab wenn die Mutter nach Tannenfels reist: Mittw. oder Donnerstag. –

  Absender: Stockhausen, Julius (1547)
  Absendeort: Kolmar
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 7
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Jenny Lind-Goldschmidt, Wilhelmine Schröder-Devrient, Julius Stockhausen, Pauline Viardot-Garcia und anderen Sängern und Sängerinnen / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Jelena Josic, Thomas Synofzik, Anselm Eber und Carlos Lozano Fernandez / Dohr / Erschienen: 2023
ISBN: 978-3-86846-018-6
546ff.

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 2,15
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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