23.01.2024

Briefe



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ID: 19541
Geschrieben am: Montag 21.12.1863
 

Wien 21. Xber 1863

Liebe Frau Schumann,
Wenn man auch früh aufsteht, man kommt hier zu nichts. Von Morgens bis Abends möchte man in den Straßen, im Caffeehaus, im Theater oder in Gesellschaft seyn. Es ist ein so ganz anderes Clima, eine so viel schärfere Luft, so ganz andere Menschen, so viel erregendes Element daß man auch bald die Verschloßenheit des Nordens von sich wirft u. mit macht. Mit einem Mal es ist ein herrliches Leben, u. Sie müßen selbst eingestehen – es ist hier viel lustiger zu leben als da droben an der Elbe. Zum Glück hat aber Alles zwei Seiten in der Welt u. ich bin doch schon so Deutsch geworden in den letzten fünf Jahren daß ich ebensogerne im Norden musicire als hier. Es ist gut daß Sie nicht gekommen sind liebe Frau Schumann; Sie hätten wenig Freude gehabt. Herbeck ist ein Dirigent der nur sich im Auge hat, die Sache viel weniger. Er dirigirt auswendig, ja, aber Alles kann kein Mensch im Kopfe haben und so blieb auch Gestern in der Aufführung noch gar Manches aus. Wie die Orchesterstimmen sind wissen Sie. <Aber> Statt sie vor den Proben corrigiren zu laßen, etwa nach einer revidirten Partitur, (die Hannoversche z. B.) baute Herbeck auf sein treffliches Gehör u. auf sein Gedächtniß u. so wurde auch immer jeder Fehler herausgeschrieen, aber herausradirt – nicht. Die Musici haben nicht immer Bleifedern bei sich u. berufen sich auf ihr Gedächtniß. Ferner kann kein Dirigent der Welt Alle Eintritte dem Chor angeben, das ist nicht Menschenmöglich; auch alle Nuancen nicht u. so blieben im zweiten u. im dritten Theile die meisten weg Vielleicht 10 Stimmen setzten ein, aber 160 nicht. Im Chor „Gerettet“ war kein Hauch von dem schweren Einsatz zu hören im Sopr. (S. 141. Takt 2.) Cl.[avier]ausz.[ug] ebensowenig von dem piano bei B. u. D, und es war zu flüchtig einstudirt geworden, nur acht Clavierproben im ganzen. doch ist’s eine wichtige, ganz Beethoven’sche Nuance. Von der Seite 158 an war es schlecht zu nennen. „Vernimm das Schrei’n du Ohnegleiche“ hätten die Dilettantinnen singen sollen, nicht das Flehen, u. von einem sicheren Eintritt im Frauenchor, keine Spur. Oft sang der Herr Dirigent selbst mit wie bei „Er überwachet uns schon.“ Beim Schlußchor setzte sogar der Sopr. des II Chors S: 177 um zwei Viertel zu früh ein. Und doch kann man nicht sagen daß es schlecht klang. Es giebt so viele talentvolle Dilettanten hier, daß 10 od. 12 in jeder Stimme am Tag der Aufführung alles halten, aber die Frage ist: Wie hätte das Werk gewirkt wenn es gewißenhaft einstudirt gewesen wäre? Und mit solchem Chor? – Ich ging Samstag zu Herbeck u. bat ihn von der an S. 161. anzufangen, u. den Schlusschor namentlich vorzunehmen, dann erst das Ganze im Zusammenhang. Er schien sehr pikirt u. sagte „Seyn’s ohne Sorgen, s‘ wird schon gehn; ich kenne meine Leite!“ Ich erwiderte es singe nur ein Drittheil des Chors. „S‘ wird schon gehn!“ Hätte so ein Mensch nicht verdient daß Faust davongelaufen wäre? Nein, man muß gerecht seyn: in der Aufführung ist nichts missglückt, u. der Chor sang doch noch wackerer als die Solisten. Herr Olschbauer, Gesellschaftsmitglied, dessen Name gross gedruckt auf dem Zettel steht, mußte die Arie des Pater Ecstaticus weglassen, u. konnte die eine Stelle des Ariel S. 37. letzter Takt unmöglich treffen. Der Bassist Herr Panzer hat eine schöne Stimme, aber schrecklich gepanzert, sie geht eben u. in den ganzen Leib u. ist rund wie er, aber erstrecken thut sie sich in die Weite nicht, u. ein Wort klingt ja wie’s andere. Vom Alt solo keine Spur! Eine Grabesstimme: „Es tönte hohl, gespensterhaft, gedämpft“ Hingegen Frau Wilt(Sopran) hat eine superbe Stimme u. Frl. Hauer sang „Jene Rosen“ sehr hübsch: Der guten Frau Durtmann liegt das Gretchen zu tief. Sie mimte auch Manche andern, gab sich aber alle Mühe es gut zu machen u. wenn Herbeck das Alla Breve S. 164 nicht übersehen hätte u. das Tempo nicht noch einmal zu langsam genommen, hätte sie mit dem Schluss „Neige neige“ grosse Wirkung gemacht. Allerdings allein fast ohne Chor denn von dort an sangen wie gesagt Alles die Choryophaen. Es sagt auch jeder es sei die schwächste Aufführung des Sing-Vereins dieses Jahr. Ein schöner Trost! Dass Kirchner nicht da war ist mir sehr lieb, er hätte sich sehr geärgert über manche Tempi u. über das zusammengetrommelte Orchester. – Im Ganzen war die Wirkung eine erfreuliche u. das Meiste sehr warm aufgenommen so dass der liebe grosse Meister wieder ein Plätzchen mehr in den Herzen der Wiener hat. Nur Schade daß man es nicht gleich wiederholen kann. Nur noch eine Bemerkung: Behüte nur der Himmel vor solchem HerbeckGedächtniß! Lieber ein Zehntheil und etwas mehr Geist u. Ernst. Die Eitelkeit verdirbt bei den Wienern Alles. Sie heben sich in einem Werke einige Knalleffecte heraus studieren solche Stücke ein, wie Dies irae z. B. u. opfern das Andere. Mit einem Wort: wer den Faust nicht in Hannover unter Joseph’s Leitung gehört hat hat ihn noch nicht gehört. Das war die schönste Aufführung weil jeder von uns die Sache im Auge hatte, nicht das dumme Sichhervorthun! – Von Brahms nur Erfreuliches. Er ist sehr fleissig für seine Academie u. instrumentirt Tag u. Nacht. Am 4 Jan sein zweites Concert. Er ist wohl, munter u. freundlich, spielt öffentlich u. wird – vergöttert! Viel kommen wir nicht zusammen da ich nicht kneipe aber ich besuche ihn so oft es geht u. wir plaudern viel über Chorsachen. – Adieu! hier kommt Bruder Heinrich; ich muss schliessen.
Von Herzen Ihr treuergebener
Faust

Herzliche Grüsse an Frl. Marie Frl. Julie u. Ihre Umgebung.

  Absender: Stockhausen, Julius (1547)
  Absendeort: Wien
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 7
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Jenny Lind-Goldschmidt, Wilhelmine Schröder-Devrient, Julius Stockhausen, Pauline Viardot-Garcia und anderen Sängern und Sängerinnen / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Jelena Josic, Thomas Synofzik, Anselm Eber und Carlos Lozano Fernandez / Dohr / Erschienen: 2023
ISBN: 978-3-86846-018-6
609 - 613

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 2,94
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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