23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 19670
Geschrieben am: Donnerstag 11.09.1884
 

Hochverehrte, theure Frau Schumann!
Heute werde ich die mir zur Durchsicht geschickten Lieder, Op. 127, an Härtel’s befördern. Ging es etwas lange damit, so kam das daher, dass Sie mir keine Vorlage zum Vergleichen mitsandten; hier angekommen (Montag, d. 8. Sept.) habe ich die Revision gleich erledigt.
Wegen der „Sphinxes“ im Carneval bin ich der Ansicht, dass eine Anmerkung, in der gesagt wird: diese Noten dürfen nicht gespielt werden, genügen sollte. Alle diejenigen, die musikalisch soweit vorgeschritten sind, um den Carneval, wenn auch nur leidlich bewältigen zu können, kennen auch Schumann’s gesammelte Schriften, u. damit zugleich die Beziehung des A. S. C. H zur Composition. |2| Ein allzu direktes Hinweisen oder Erklären würde mir missfallen. –
Da ich jetzt viel Zeit habe, möchte ich Sie bitten, mir baldigst weitere Correkturen schicken zu wollen, denn an Lust fehlt es mir niemals dazu. –
Wir hoffen u. wünschen herzlich, dass Ihnen der Aufenthalt in den Bergen rechte Kräftigung gebracht hat, u. dass die Sorge um Ihre lieben Kinder, Frl. Marie u. Hr. Ferdinand durch deren Wohlbefinden gehoben sein möchte. Sollte sich für Frl. Marie nicht Massage empfehlen? Auf unserer Reise haben wir Wunderdinge über derartige Curen gehört; Kelgreen in B.-Baden u. Metger in Amsterdam müssen außerordentlich erfolgreich gewirkt haben.
|3| Ueber unsern Aufenthalt in Aeschi, der 3 Wochen währte, sind wir sehr befriedigt; das liebliche Dorf liegt reizend u. die Aussicht ist sehr mannigfaltig: auf der einen Seite Thuner- u. Brienzer-See mit deren lieblichen Geländen, u. auf der andern <ble> die blendenden Schneefelder der Blümlisalp. Obgleich der Ort nicht ganz 3000 Fuß üb. Meer liegt, haben wir niemals von der Hitze gelitten, dieweil stets ein erfrischender Wind weht. Am 11 Aug. fuhren wir nach Kandersteg u. am 12. ging’s über <> die Gemmi (Jetta hoch zu Ross bis zur Passhöhe) nach Bad Leuk. Da wir stets vom Wetter begünstigt waren, konnten wir die großartige Gemmi-Aussicht sehr genießen. Im Bad Leuk sahen wir die so sehr ei-genthümlichen Bäder an, wo |4| Männlein u. Weiblein 6–8 Stunden lang sich in immer demselben Wasser aufhalten. Appetitlich will mir das nicht scheinen. Frühstücken, Blindekuh- u. Domino-Spiel, begleitet von einem Heidenlärm u. gegenseitigem Anspritzen – Alles wird im Wasser besorgt, u. trotzdem mögen die Stunden noch langsam genug verstreichen. – An¬deren Tags pilgerten wir nach Susten-Leuk (Eisenbahn-Station) u. fuhren weiter nach Visp, <w>von wo wir abmarschirten u. gegen 8 Uhr Abds nach St. Nicolas gelangten, dort übernachteten u. <A> am andern Mittag in Zermatt eintrafen. Hier blieben wir 8 Tage u. machten neben andern Spaziergängen die Tour auf den Gornergrat, der großartigste Aussichtspunkt der ganzen Schweiz. Jetta saß wieder hoch zu Ross, u. wir beide |5| waren glücklich dort oben, wo die größten Bergriesen Europa’s in eisigem, starrem Schweigen uns umgaben. Nur hin u. wieder hörte man das Donnern stürzender Lawinen, u. eine haben wir auch stürzen sehen, es war am Monte rosa, der einem ganz nahe gegenüber steht. Die Rückreise gestaltete sich insofern höchst angenehm, als sich in Visp ein<e> Retourwagen fand, der billiger war als die Posttaxe, u. so fuhren wir das Rhonethal hinauf, übernachteten in Viesch, u. am andern Morgen früh gings weiter über Rhone-Gletscher, Furka, Andermatt bis Göschenen, wo wir übernachteten u. daselbst einen ausgezeichneten Ivorne fanden, dem ich scharf zusprach. Aber auch schon die Flaschen waren poetisch: sehr alt u. deshalb mit Staub u. Spinnweben behangen; die Wirthstochter, ein freundlich Mägdlein, hatte den tollen Gedanken, die Flaschen zu säubern, |6| was ich aber kurzweg als Vandalismus erklärte u. nicht zuließ. Das war denn eine köstliche Weinpoesie, an der sich Jetta wacker betheiligte. Am 24. Aug. trafen wir in Brunnen ein, woselbst wir im Waldstätterhof, oder eigentlich in einer Dependance ein zauberhaftes Zimmer für uns reserviert vorfanden. Kurz gesagt, konnte man sich in diesem Zimmer im 17 Jahrh. wähnen; uns fehlten nur die Perrücken [sic] dazu.
Aber trotzdem┌u.┐ alledem u. alledem, was wir auch Schönes gesehen haben, Brunnen bleibt der lieblichste Ort der Welt! Und nur, weil der Beutel leer geworden, reis’ten wir heim, sonst wären wir sicher noch dort.
Nun herzliche Grüße an Sie u. Ihre lieben Töchter von
Ihrem
herzlich ergebenen
Alfred Volkland
Basel, d. 11. 9. 84.
Jetta grüßt ebenfalls herzlichst Alle.

  Absender: Volkland, Alfred (1639)
  Absendeort: Basel
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 10
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Theodor Kirchner, Alfred Volkland und anderen Korrespondenten in der Schweiz / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Annegret Rosenmüller / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-021-6
457-460

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 4,292
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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