23.01.2024

Briefe



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ID: 19790
Geschrieben am: Samstag 28.01.1865
 

Carlsruhe 28.1.65.
Verehrte Frau.
Die Hauptfrage meiner gestrigen Depesche haben Sie nicht beantwortet; darf ich daraus schließen, daß Sie wieder ganz hergestellt sind, oder hat mein Gewissen Recht, das mir zuruft: Du selbst bist schuld, daß Du auf Dein „Wie geht’s“ keine Antwort erhältst, da es dir so spät eingefallen, zu fragen. – –
Das Schicksal begeht zuweilen Ungerechtigkeiten, für deren Erklärung man keine Worte hat. Wenn wir auf hoher See unser Schifflein mit sichrer Hand zu führen glauben, kommt ein Sturm, der der Segel und Ruder spottet, das Steuer zerbricht und uns zwingt, in einem schützenden Hafen, weiter vom Ziel als je, das Unwetter abzuwarten; Energie und Charakterstärke – die Steuerleute des Schiffes – sind nun lahmgelegt und können ihre Kraft höchstens in geduldiger Ausdauer erproben; wer will ihnen verdenken, wenn sie gegen den Sturm, der – selbst ohne Willen – ihren Willen anullirt, murren? Aber über eine Weile kommt Sonnenschein; das Ziel, das das Wetter verdunkelt hatte, strahlt wieder dem Schiffer aus weiter Ferne entgegen; das Ungemach ist vergessen, die Steuerleute fühlen sich und das Schifflein fährt wieder lustig seiner Bestimmung zu, die es erreichen wird, ob auch tausend Stürme die Fahrt verzögern. – Sie überragen uns alle sosehr an Unerschütterlichkeit des Willens und Tragfähigkeit, daß es fast komisch wäre, wollte Unsereiner Ihnen Trost und Muth einsprechen. Es scheint, als ob das Schicksal immer nur diejenigen zum Kampfe herausfordere, denen es die Kraft des Siegens zutraut; die Schwachen verschont es mit seinen Schlägen, weil es die Naturen nicht vernichten, sondern stählen will. Tausend Gedanken kreuzten sich in mir, als ich die Nachricht von Ihrem Unfalle1 über Düsseldorf und Baden endlich erfuhr; mißdeuten Sie nicht, daß ich Ihnen jetzt erst schreibe; ich denke, Sie kennen das innere Wesen eines Menschen, von der Art, wie es sich äußert, Sie wissen, daß ich Ihnen von ganzem Herzen anhänge – das ich Ihnen in unwandelbarer Treue ergeben bin – – – –
Ich bin noch ganz betäubt von dem gestrigen Abend und ich glaube, Keiner im Saale, der überhaupt eines Eindruckes fähig, konnte sich der tiefsten Erschütterung verwehren; athemlose Stille herrschte, bis der letzte Ton verklungen war. Die Aufführung war nach Maßstab der hiesigen Kräfte vortrefflich, das Streichquartett verstärkt (Koning spielte Bratsche mit), die ersten Chöre sang der Philharmonische Verein, das Requiem der Theaterchor in einem Nebenzimmer mit Orgel. Das Gedicht ließ ich von 4 Schauspielern sprechen; Astarte, Alpenfee und Geist – Frau Lange, Manfred – der junge Devrient, Abt, Alpenjäger und Ariman – Herr Nebe, Erzähler – Herr Schneider. – Von der Pohl’schen Bearbeitung ist nur ein Minimum übrig geblieben, den Erzähler habe ich nur das Allernothwendigste zur Erklärung der Situation und des Schauplatzes sprechen lassen, dagegen ganze Scenen, die in der Bearbeitung fehlten, aus dem Originale wieder hergestellt. Pohl war selbst hier und macht gute Miene zum bösen Spiele. Den Erzähler ganz zu streichen, und nur das Drama sprechen zu lassen, ist ganz unmöglich. Dekoration, Maschinerie und Costüm sind eben nothwendige Ingredienzen eines Drama’s, die im Conzertsaale durch das Wort ersetzt werden müssen; der vorzugsweise abstracte, philosophische Inhalt des Gedichtes beschäftigt die Einbildungskraft des Publikums schon in hohem Grade, kommt man ihr nicht durch eine klare gedrungene Uebersicht der Handlung zu Hülfe, so kann der Hörer nicht mehr folgen und vernimmt Worte ohne Sinn. Eine Bekanntschaft mit dem Gedichte darf man bei einem deutschen Publikum ebensowenig voraussetzen. Devrient sprach den Manfred wundervoll. Sein Vater, diese steinerne nicht leicht überschäumende Natur, gestand mir, seit Jahren habe ihn nichts mehr so ergriffen; von Mannheim und Heidelberg waren Freunde herübergekommen. Doch warum sage ich Ihnen dies Alles; Sie äußerten früher einmal – ich glaube es war die Rede von Verhulst – die Leute glaubten immer durch Aufführung Schumann’scher Werke Ihnen einen Gefallen zu thun; bei mir setzen Sie dies wohl nicht voraus, aber ich muß doch gestehen, daß ich fort und fort an Sie denken musste und Sie herbeiwünschte; die Prinzessin6 und Elise lasen in der Probe in Ihrer Partitur8 nach; mein Bruder9 hat Ihnen wohl gesagt, welche Freude ich damit hatte; er war zugegen, als ich das Paquet öffnete, und ich dachte, er sei ein wärmerer Ausdruck meines innigen Dankes, als meine ungeschickte Feder; jetzt, da sie durch die Aufführung Leben bekommen hat, ist sie mir doppelt lieb. – – Frl. Elise hat jetzt die Akkordlehre ziemlich hinter sich; sie begreift rasch und ist sehr fleißig. Das eigentliche Musikantentalent fehlt ihr; ihre Aufgaben sind meistens fehlerfrei, weil sie gewissenhaft alle Regeln beobachtet; auch hat sie feinen Sinn für Wohlklang, fasst leicht alles Praktische, wie Schlüssel- und Partiturlesen; ich denke, ihr Ohr wird sich durch andauernde Uebung noch schärfen. Darüber können Sie beruhigt sein, daß ich die Stunden nicht fortsetzen würde, wenn ich sie für nutzlos hielte; leider haben wir so wenig Zeit, daß wir nur selten zum Partitur- oder Schlüssellesen kommen.
Soweit schrieb ich schon vorgestern, wurde gestört und komme erst heute dazu, zu endigen: Samstag Abend war ein Künstler-Maskenball; Elise als heilige Elisabeth tanzte den ganzen Abend, sie ist erst heute Mittag wieder abgereist. Ende Dezember war Kirchner hier, ich war ganz gerührt, daß er in dieser Kälte die lange Reise machte, um mich zu besuchen und er selbst meinte, kein Andrer sei eines so dummen Streiches fähig. Wieder machte er mir den Eindruck, als ob man ihm Alles verzeihen müsse, als ob man an ihn nicht den gewöhnlichen Maßstab der Moral legen dürfe; er ist ganz Gefühl, und deßhalb ganz Schwäche; der fortwährende Widerspruch seines äußeren Lebens mit seinem inneren, seines Talentes mit seinen Leistungen nimmt ihm allen inneren Halt; im Guten wie im Schlimmen folgt er dem Momente ohne Widerstand, aber der Kern ist gut.
Ich fühle mich ihm um 10 Jahre älter; selbst seine Fehler haben etwas kindliches; auch Sie hätten sie weniger schwer genommen, wäre er 20, statt 40 Jahre alt. Er kommt nächsten Sommer wieder hierher. Werden Sie ihn in alter Freundschaft wieder aufnehmen? Es thut mir weh, daß ich nicht mit ihm von Ihnen sprechen konnte; auch er nannte kaum Ihren Namen, obschon er keine Ahnung hat, daß ich weiß, was Sie von einander entfernt hat. –
Rieter Biedermann hat mir die Platen-Daumer’schen Lieder geschickt! von dem zweiten Heft gefällt mir nur das erste Lied; es thut mir leid, daß er die übrigen herausgegeben hat; gerade jetzt sollte er recht vorsichtig sein; doch Brahms selbst hat mir so oft gesagt, daß ich nichts von Musik verstehe, daß ich es nach und nach selbst glaube. Die Spielbank hat vielleicht ungünstig auf ihn gewirkt, außer dem ersten &2ten sind alle Lieder des zweiten Heftes in Baden komponirt. Das erste Heft ist wundervoll. – Zu Neujahr hatte ich Brief von ihm, natürlich wieder in Versen.
Mit der Genoveva wird es nun Ernst. Ich hoffe, im Sommer werden Sie sie hören – wenn ich noch hier bin. Die Menschen hier behagen mir aber so wenig, daß ich nur dann bleibe, wenn meine künstlerische – wollt’ ich sagen geschäftliche – Stellung so wird, wie ich sie mir wünsche. Zwei Pferde können nur an einem Wagen ziehen, wenn sie von gleicher Race sind, was ich von Kall. und mir nicht behaupten kann. Ueber kurz oder lang werde ich doch die Theaterwirthschaft satt haben. – Eben war Ludwig hier, er sendet Ihnen herzliche Grüße. Ueber ihn werde ich Ihnen nächstens ausführlicher schreiben, wie auch über manche andere in Ihrem lieben Briefe angeregten Punkte. Für heute leben Sie wohl! Hoffentlich trifft Sie dieser Brief nicht mehr in Düsseldorf, sondern wieder auf der Reise und im Vollbesitz Ihrer Hand! – Viele Grüße an Frl. Marie.
In treuer Ergebenheit Ihr
Hermann Levi.

  Absender: Levi, Hermann (941)
  Absendeort:
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 5
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Franz Brendel, Hermann Levi, Franz Liszt, Richard Pohl und Richard Wagner / Editionsleitung: Thomas Synofzik, Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik, Axel Schröter und Klaus Döge / Köln: Verlag Dohr / Erschienen: 2014
ISBN: 978-3-86846-016-2
453-457

  Standort/Quelle:*) D-Zsch, s: 10623,7-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 

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