23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 19803
Geschrieben am: Sonntag 12.05.1867
 

Verehrte Freundin.
Ich weiß welch widerstreitende Gedanken Ihnen die bekannten-unbekannten Schriftzüge der Adresse erwecken werden! Ich kenne das Urtheil das mir gesprochen ist und würde die Vollstreckung desselben oder – die Begnadigung – hinausziehen bis ich Sie wiedersehe, wenn mir nicht Ludwig’s Angelegenheiten geböten, das Schweigen zu brechen. – Als das Zerwürfniß mit Frau Weyk ausgeglichen war, ging alles auf das Beste, im Hause und im Geschäfte. Bei Herrn Knittel war nach Neujahr viel zu thun und Ludwig arbeitete dort ziemlich regelmäßig und zur Zufriedenheit des Prinzipals und bei Frau Weyk war er freundlich, zuvorkommend, ordentlich, wie er es auch heute noch ist. Gegen das Frühjahr wurde er im Geschäft lässiger; er klagte mir oft, es sei so klein, es sei wenig zu thun, was ihn interessire; ich sprach ihm immer zu, daß die Lehrzeit eben keine Zeit des Genusses, sondern des Lernens sei, daß er sich zusammennehmen und seine Pflicht bis in’s Kleinste thun solle. Von einer Kündigung seinerseits, d. h. von seinem Gespräche mit Herrn Knittel, in dem er seinen Wunsch zu erkennen gab, in ein größeres Geschäft auswärts zu treten, erhielt ich erst Kenntniß durch Frl. Julie. Ludwig, dem ich vorhielt, warum er nicht vorher mit mir gesprochen, ehe er einen so wichtigen Schritt unternommen, wussten keinen Grund als den, er habe mich nicht damit bemühen wollen, weil ich so überaus beschäftigt sei. – In einer Unterredung mit Herrn Knittel sagte mir dieser, Ludwig werde so lässig, daß er sich nicht mehr auf ihn verlassen könne; er selbst halte es für gut, wenn Ludw. nicht länger bei ihm bleibe (dies schrieb er Ihnen auch nach Mannheim; ich erhielt von Ihrer Anwesenheit dort leider erst Kenntniß, als Ludwig wieder hier war; mir war daran gelegen, die Sache bis zu Ihrer Rückkunft nach Baden zu verzögern). Als Ludwig von Mannheim zurückkam, war er wieder ganz pünktlich. Ich sprach vorigen Mittwoch mit Herrn Knittel (noch ehe Ihr Brief an Denselben angekommen war). Er sagte mir im Allgemeinen über Ludwig: Ueber seine Befähigung sei kein Zweifel; nur thue er Alles sprungweise; wenn er wolle, könne er so gut arbeiten, wie irgendein Anderer, wolle er aber nicht, so sei nichts mit ihm zu machen; er (Knittel) könne ihm nichts unbedingt anvertrauen, weder den Verkaufe mit dem Publicum, noch das Eintragen in Bücher, weil er immer hinterher nachsehen müsse, ob er gerade aufgelegt gewesen und das Aufgetragene ausgeführt habe oder nicht. So nütze er dem Geschäfte fast nichts. Dazu komme, daß er fast nie regelmäßig in’s Geschäft komme; einmal habe er einen Brief zu schreiben, das anderemal Kopfweh gehabt und habe deßhalb spazieren gehen müssen etc. Wenn man ihm einen Fehler nachweise, so widerspreche er Anfangs und es dauere lang, ehe er sich zu dem Bekenntniße entschließe, er müsse sich wohl geirrt haben; in Bezug auf Capacität und selbst Arbeitskraft sei er Manchem überlegen, aber in der Ausdauer, der Zähigkeit des Wollens und Arbeiten’s werde er von seinem weit jüngeren und unbedeutenderen Mit-Lehrling weit übertroffen, und Ausdauer, Pünktlichkeit und Unverdrossenheit seien eben die ersten kaufmännischen Erfordernisse. Ob diese seine Mängel im Allgemeinen in Ludwig’s Naturell begründet seien oder ob sie eine Folge seiner Unlust speziell für das Knittel’sche Geschäft seien, könne er noch nicht entscheiden. Gegen die erste Annahme spreche die Thatsache, daß er könne, wenn er wolle; gegenwärtig sei er wieder ganz pünktlich, aber Niemand könne wissen, wie lange es anhalte. Wie dem auch sei, er halte eine Trennung in dem eignen und in Ludwig’s Interesse für geboten. – Zwei Tage darauf kam Ihr Brief an. Herr Knittel ließ mich rufen, sprach mit mir über seinen Inhalt, und ersuchte mich, Ihnen zu schreiben, ob Sie nicht, sei es schriftlich, oder auf Ihrer Rückreise, in Leipzig oder Berlin Schritte thun möchten, Ludwig nicht in einer Buch-Handlung, sondern in einem Musikalien-Geschäfte zu placiren. Herr Knittel glaubt, daß Ludwig für das tägliche Einerlei eines Sortiment-Geschäftes nicht geschaffen sei, daß er überhaupt nur arbeite, wenn er sich für den Gegenstand der Arbeit auch interessire, was in einem Musikaliengeschäfte am ehesten vorauszusetzen sei. (Frau Weyk sagt mir, Ludwig äußere immer noch zuweilen, sein eigentlicher Beruf sei doch – Musiker zu werden). – Daß Herr Knittel Ludwig durchaus nicht behalten wolle, ging aus meinen Unterredungen mit ihm nicht hervor. Aber noch an demselben Tage kam beiliegender Zettel, nach welchem die Brücken abgebrochen sind. Ich hätte Ihnen in Folge dessen gleich geschrieben, wenn ich nicht gestern den ganzen Tag zu Bett gelegen wäre. Herr Knittel glaubt, daß Ludwig erst dann zu wirklichem Ernst zu bringen sei, wenn er eingesehen habe, daß das, was ihm jetzt so unangenehm ist, das tägliche, einförmige, zwangsweise Arbeiten, die vor allem nothwendige Pünktlichkeit, ja Pedanterie im Dienste, nicht eine besondere Eigenthümlichkeit der Knittel’schen, sondern aller Geschäfte sei, und um dies zu erfahren, müsse er baldmöglichst ein anderes Geschäft kennen lernen. Aus dem Wunsche Herrn Knittel’s, daß Sie selbst durch Ihre Verbindungen in Leipzig und Berlin Schritte thun möchten, ziehe ich den – wenig erfreulichen Schluß, daß er Ludwig nicht genug empfehlen zu können glaubt. Indessen fügte er hinzu, er sei bereit, wenn Sie es wünschten, auch selbst sein Bestes zu thun Ludwig eine Stelle zu verschaffen. Frau Weyk sprach ich vorgestern. Sie war des Lobes voll. Ludwig gebe nicht den geringsten Anlaß zur Klage; er spiele auch nicht mehr zu viel Klavier, er sei zuvorkommend, liebenswürdig und heiter. Auf sein Klagen über Kopfweh etc. legt sie wenig Gewicht; er sei wohl ein bischen [sic] wehleidig. Indessen veranlasste mich eine Äußerung Herrn Knittels, Ludwig könne nicht anhaltend schreiben; wenn er eine Stunde geschrieben, klage er über Müdigkeit im Gelenke, mit L. zu einem Arzte zu gehen. Wir trafen ihn vorgestern nicht; morgen werde ich wieder mit ihm hingehen und Ihnen das Resultat, falls ein solches zu Tage kam, melden. – Es thut mir weh, Sie mitten in der Kur mit Obigem betrüben zu müssen; aber die Sachen stehen einmal so, daß kein Aufschub mehr möglich ist; auch sind Sie ja in der Hauptsache schon unterrichtet. Wollen Sie nicht bei Härtels anklopfen? Ich bitte Sie, Herrn Knittels wegen womöglich umgehend zu schreiben; es wird ihm gewiß recht sein, wenn die Sache verschoben wird, bis Sie wieder hier sind; nur möchte er darüber bald Nachricht haben, ob er selbst geeignete Schritte thun solle, eine Stelle für Ludwig zu finden. – – Von mir selbst wüsste ich nur zu constatiren, daß ich im vergangenen Winter „gelebt“ habe. Aber fragt mich nicht, wie! Ereignisse, die zu vermeiden, außer meiner Macht war und die ich Ihnen nicht verhelen werde, wenn Sie es wünschen, haben meinem ganzen Wesen einen Stoß zum Nichtwiedererkennen versetzt. Zum Glück hielt mich die fortgesetzte, angestrengte Berufsthätigkeit noch halb über’m Wasser. Leben Sie wohl. Sagen Sie Frl. Marie freundschaftliche Grüße.
Von ganzem Herzen Ihr getreuer
Hermann Levi.

Carlsruhe 12. Mai 67.

  Absender: Levi, Hermann (941)
  Absendeort: Karlsruhe
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 5
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Franz Brendel, Hermann Levi, Franz Liszt, Richard Pohl und Richard Wagner / Editionsleitung: Thomas Synofzik, Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik, Axel Schröter und Klaus Döge / Köln: Verlag Dohr / Erschienen: 2014
ISBN: 978-3-86846-016-2
506-509

  Standort/Quelle:*) D-Zsch, s: 10623,20-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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