Verehrte Frau!
Gestern Abend von Salzburg hier angekommen, finde ich Ihren Brief, der leider meine Hoffnung, die nächsten Wochen mit Ihnen zu verbringen, auf ein Minimum reduzirt. Indessen scheint heute die Sonne wärmer als mir lieb ist, und wenn ihre bisherige Abwesenheit wirklich der einzige Grund ist, warum Sie die Reise nicht unternehmen wollen, so sehe ich Sie vielleicht doch noch in Moritz. Aus dem Ton Ihres Briefes scheint mir aber hervorzugehen, daß Sie überhaupt keine große Lust haben, von Baden wegzugehen, was ich mit Rücksicht auf Felix’ Besuch und den Ausspruch des Arztes, daß Frl. Julie nicht mitgehen darf, wohl begreife. Jedenfalls ist es unter diesen Umständen nicht gerathen, ein Rendez-vous in Chur oder sonst wo zu verabreden. Ohnedies hat mir der Arzt dringend anbefohlen, sehr allmählig in die Höhe zu steigen, weil der plötzliche Temperaturwechsel nachtheilig sei. Ich denke also morgen von hier abzureisen und habe mir mit Bädekers Hülfe folgende Route gewählt: Lindau – Ragatz – Pfeffers – Landquart – Küblis – Davos-am-Platz – Fluela-Pass – Süs – Samaden – Moritz. Da ich viel zu Fuß zu gehen beabsichtige, wird die Tour wohl 9 Tage in Anspruch nehmen, am 3. Juli denke ich in St. Moritz zu mindestens 3-wöchentlichem Aufenthalte anzukommen. Dann bleiben mir noch 8 Tage, die ich entweder zu einem Besuche bei Emma oder zu einer Tour ins Berner Oberland (was ich auch noch nicht kenne) verwenden werde. – In Salzburg war ich einen Tag mit Frau Joachim und Hilleprandts zusammen. Wir machten eine herrliche Fahrt nach St. Jacob, Abends sang uns Frau Joachim vor – Brahms und Schubert – Winterreise. Entweder sie hat wieder große Fortschritte gemacht, oder ich habe meine durch die wunderbare Natur aufgeregte Stimmung mit der Wirkung ihres Gesanges verwechselt – mir war, als hätte ich nie so schön singen hören. Ihre Stimme geht Einem aber, wie der Wiener sagt „eini“. – In der Nacht machte ich noch einen großen Spaziergang, der mir ein passables Lied und einen furchtbaren Stockschnupfen eintrug. – Ich habe hinterher bereut, Ihnen über Felix geschrieben zu haben; schriftlich sieht dergleichen so wichtig und ängstlich aus, während ich Sie doch eigentlich nur veranlassen wollte, ihn zu Äußerungen über seine Zukunft anzuregen und ihm etwaige Absichten, Musiker zu werden, möglichst zu verleiden. Ich habe wohl nicht nöthig, Sie zu bitten, Felix selbst nicht zu sagen, daß
und was ich von ihm geschrieben? – Daß der Arzt Frl. Julie St. Moritz nicht erlaubt, deutet doch hoffentlich nicht auf einen Rückschlag in ihrem bei meiner Anwesenheit so guten Befinden?
Nun will ich in die Ausstellung, um Feuerbach’s Bild zu sehen, wenn es schon ausgepackt ist. Von Carlsruhe habe ich die allerbesten Nachrichten. Sonnenschein nach langem Sturm. – Leben Sie wohl. Hoffentlich auf baldiges Wiedersehen! – Am 2ten Abends werde ich an Herrn Hauser in Steinbach telegraphiren, ob Sie angekommen. In treuer Freundschaft immer Ihr
Hermann Levi.
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