Verehrte Freundin.
Vorgestern bin ich endlich wieder hier eingerückt; meine Ferienreise war diesmal eine durchaus verfehlte: statt in Bergsteigen und Naturkneipen Erholung zu finden, musste ich fast 4 Wochen am Stock herumhumpeln. Als Maßstab meiner unmuthigen Stimmung und der ausgestandenen Langeweile mag Ihnen dienen, daß ich Stöße von Notenpapier vollgeschrieben habe; – ein sicheres Zeichen physischen und moralischen Heruntergekommensein’s. Auch Sie haben, wie ich mit inniger Theilnahme höre, ein Leiden lästigster Art aus den Schweizerbergen mitgebracht, das gerade jetzt um so unwillkommener ist, als Sie sonst Ursache hätten, sich über Mancherlei zu freuen: das Wiedersehen Ferdinand’s, die Geburt eines zweiten Enkelchens, die schönen Eindrücke, die Ihre Kinder von Frau Julien’s häuslichem Glücke mitgebracht haben. Ich hoffe von ganzem Herzen, daß die Sache nur vorübergehend ist, und daß Sie Geduld und Humor genug auftreiben, sich nicht dauernd verstimmen zu lassen. Nun würde ich mich gerne sofort nach Ihnen Allen umsehen,aber vor nächstem Sonntag ist es mir leider nicht möglich. Ich habe Samstag Rienzi mit ganz neuer Besetzung, und täglich zwei Proben. Daß mein musikhungriges Gemüth gerade mit solchem Scheusal anfangen muß, ist ein rechtes Verhängnis. Auch in nicht-musikalischer Beziehung ist meine Rückkunft nicht gerade von günstigen Vorbedeutungen begleitet. Ueberall Verluste, kein Gewinn. Mir graut vor dem Winter; könnt’ ich ihn doch verschlafen und mich erst von der Frühlingssonne wieder erwecken lassen! – –
Morgen: Was Ihr wollt’ in schöner Darstellung.
Wollen Sie sich mittelst beiliegender Anweisungen 2–3 Plätze von Ackermann oder von der Kasse holen lassen?
Herzlich grüßend
Ihr treu ergebener
Hermann Levi.
Carlsruhe 5.9.71.
|