Verehrte Freundin.
Ich kann mein Vorhaben, Sie vor meiner Rückkehr nach München noch einmal zu sehen, leider nicht ausführen; heute erst bin ich von Giessen, wo ich mit meiner Schwester aus Paris und meinem Bruder aus Mannheim zusammengekommen war, hier angekommen, und muß morgen nach Hause. Auch auf Bonn muß ich verzichten. Wüllner war bisher durch die Musikschule in München festgebannt und wartet sehnsüchtig meiner Rückkehr, um sich auch ein wenig zu erholen. Ich hatte ihm vorgeschlagen, er soll bis zum 25ten sich noch gedulden, aber er konnte nicht darauf eingehen, und es wäre unbillig meinerseits, in ihn zu dringen. Aber im Geiste werde ich mit Ihnen und den Freunden in Bonn sein und schönstes Gelingen der schönen Sache wünschen. Brahms schrieb mir, daß sich Alles ganz befriedigend gelöst habe. Näheres weiß ich aber nicht. Von München aus werde ich Ihnen baldmöglichst über die Fortschritte der Partitur-Copie, und über den ungefähren Zeitpunkt der Aufführung berichten. Ich denke sofort mit den Proben zu beginnen. Vielleicht fällt mir während derselben noch ein etwas Gescheites in Bezug auf das Finale ein; vorerst bin ich noch rathlos. – Und was machen die Lieder? Wollen Sie mir dieselben zur Ansicht schicken? Besser macht sich dergleichen freilich, wenn man zusammen vor dem Klavier sitzt.
Ich habe mich in Helgoland recht erholt, und freue mich wieder in Thätigkeit zu treten. Länger als zwei Monate lässt sich doch das Bummeln nicht aushalten. – Mein Vater hatte große Freude, uns Alle wieder einmal um sich zu haben. Hier sieht es traurig aus. Mein Schwager ist ganz rath- und haltlos geworden; da muß die Zeit helfen. Wenn nur die Kinder richtig geführt werden! Ich kann sie nicht ohne Wehmuth ansehen. Das älteste Mädchen hat trotz seiner 5 Jahre schon eine deutliche Vorstellung des Geschehenen, und jammert nach seiner Mutter . . . .
Würde mir wohl Frl. Marie nach dem 2ten Bonner Abend eine Correspondenzkarte schicken wollten? Oder eine gute Kritik? Ich werde Viel an Sie Alle hindenken! Grüssen Sie mir die Joachim’s und Stockhausen!
Auf Wiedersehen in München zur Genoveva. Viel Herzliches an Frl. Marie und Eugenie. Immer in treuer Anhänglichkeit
Ihr
Hermann Levi.
Carlsruhe 11. Aug. 1873.
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