23.01.2024

Briefe



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ID: 19929
Geschrieben am: Sonntag 20.06.1886
 

Liebe Frau Schumann!
Herzlichen Dank für die Briefe! Sehr schön wäre es von Ihnen, wenn Sie dieselben direct Frau Wagner, Wahnfried Bayreuth, schicken wollten. Aber natürlich übernehme auch ich sehr gern die Vermittlung: ich reise nächsten Freitag nach Bayreuth. –
Seit dem 3. Juni war ich in Pension Moritz; Pfingstmontag reiste ich – auf die Nachricht des tragischen Ereignisses – hierher zurück. Noch kann ich meine Gedanken kaum etwas Anderem zuwenden. Daß der König in der letzten Zeit nicht mehr ganz zurechnungsfähig war, daß seine Entsetzung eine Nothwendigkeit war, ist nicht zu bestreiten. Aber über die grausame, widerwärtige Art, wie man zu Werk gegangen , ist nur eine Stimme der Entrüstung. Die Durchschnittsmenschen, die Mittelmässigen frohlocken, daß wieder Einer aus der Welt ist, der um einen Kopf grösser war, als sie Alle; aber wer sich noch ein Herz bewahrt hat für das Aussergewöhnliche, Ueber-lebensgrosse, Unmoderne in dieser unsrer armseligen Zeit, der ist tief-traurig.
Am liebsten möchte man selbst gleich aus einer Welt scheiden, in der es so zugeht. Im September besuche ich Sie in Moritz, dann werde ich Ihnen über dies Capitel mehr erzählen. – –
Wie ich höre, gehen Sie nach Franzensbad? Ihre Abreise von dort würde dann wohl mit unsern ersten Vorstellungen in Bayreuth zusammentreffen. Den Tristan möchte ich Ihnen nicht gerade zumuthen, wohl aber sollten, ja müssen Sie sich den Parsifal anhören. Sie werden nicht glauben, daß ich in meinen (und Ihren) alten Tagen noch an Bekehrungsversuche denke. Wohl aber halte ich es für die Pflicht eines Künstlers, ein Werk, das so die Welt bewegt, aus eigener Anschauung kennen zu lernen.
Wie ich es auch von Brahms nicht begreife, daß er jetzt, da Wagner todt und alles Persönliche in den Hintergrund getreten ist, sich noch immer demonstrativ von Bayreuth fern hält. Geben Sie ein Beispiel ächt künstlerischer Gesinnung, und beschämen Sie die kleinen Seelen, die grollend, und unwissend, worum es sich eigentlich handelt, in der Ecke stehen! Sollten Sie sich entschließen, so würde ich natürlich Alles (Billet, Wohnung etc.) bestens besorgen. –
Also auf Wiedersehen, entweder Ende Juli, oder im September. Herzlichen Gruß Ihnen und Ihren Kindern von Ihrem
getreu ergebenen
Hermann Levi

München. 20.6.86.

  Absender: Levi, Hermann (941)
  Absendeort:
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 5
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Franz Brendel, Hermann Levi, Franz Liszt, Richard Pohl und Richard Wagner / Editionsleitung: Thomas Synofzik, Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik, Axel Schröter und Klaus Döge / Köln: Verlag Dohr / Erschienen: 2014
ISBN: 978-3-86846-016-2
887ff.

  Standort/Quelle:*) D-Zsch, s: 10623,145-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 

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