Liebe Frau Schumann!
Innigsten Dank, daß Sie meiner und mit so guten Wünschen, gedacht haben! Ich bin gestern, nach 7 monatlicher Abwesenheit, wieder hierher zurückgekehrt, und will versuchen, meine Thätigkeit wieder aufzunehmen, wenn auch vorläufig mit etwas reduzirten Kräften. Da ich kein eigentliches Leiden habe, alle Organe gesund sind, und nur meine Nerven durch 30 jähriges Losstürmen auf dieselben endlich ihren Dienst versagt haben, so glauben die Aerzte, daß meine völlige Genesung außer Zweifel sei, wenn ich einigermassen vernünftig lebe. Erst gestern erfuhr ich hier, welch schönes Fest Sie kürzlich gefeiert haben. Bei der Weltabgeschiedenheit, in der ich die letzten Monate verbracht hatte, war die Kunde nicht bis zu mir gedrungen, sonst hätte ich sicher nicht unter den Gratulanten gefehlt. Auf sechzig Jahre künstlerischer Thätigkeit zurückblicken, und sich noch einer so lebendigen und kräftigen Gegenwart erfreuen zu dürfen, darf man wohl als eine seltene, das den Sterblichen sonst zugetheilte Maaß weit überschreitende Gnade des Himmels nennen, der gegenüber Kampf und Leiden, welches Beides Ihnen ja auch nicht erspart geblieben ist, nur wie eine nothwendige Ausgleichung zu betrachten wäre, weil sonst „die Bäume in den Himmel gewachsen wären“. Schopenhauer sagt einmal: „Das Leben ist ein Pensum, das aufgearbeitet werden muß; in diesem Sinne ist das lateinische defunctus (défunt) – einer, der auf-gearbeitet hat – ein schöner Ausdruck.“ Nun Ihnen – der Künstlerin, der Lehrerin, dem Familienhaupt – weist das Leben täglich noch so viele Aufgaben zu, daß ihre Aufarbeitung noch Jahre und Jahre erfordern wird. Deß wollen wir Freunde uns von ganzem Herzen erfreuen; und wollen nur hoffen, daß das Geschick mit dem, was ich oben: „Ausgleichung“ nannte, nicht allzu freigebig sein möge!
Herzlichen Gruss Ihren Kindern!
In alter, unwandelbarer Freundschaft
Ihr
Hermann Levi.
München 8.11.88
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