23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 21118
Geschrieben am: Montag 11.07.1892
 

Interlaken d. 11 July 92
Pension Ober.

Lieber Joachim

ganz betrübt sitze ich dem alten lieben Freunde zu schreiben, dessen Geburtstag ich vergessen habe, obgleich ich so oft an ihn gedacht! ich bin ganz beschämt, und kann es mir nur dadurch erklären, daß ich in diesen letzten Monaten schwere Sorgen durchgemacht, die mein ganzes Fühlen in Anspruch nahmen. Eugenie war sehr krank, wurde besser und von den Aerzten sofort südlich geschickt, ich reiste 3 Wochen darnach ebenfalls nach Locarno, fand sie besser, jedoch kam nach einigen Tagen meiner Anwesenheit, ein Rückfall, der schlimmer als Alles vorher war. Ich selbst, noch so sehr der Erholung bedürftig, hatte nicht so viel Widerstandskraft Eugenie meine Sorgen nicht merken zu lassen, und das regte wieder sie so auf, daß wir uns, wie sie besser wieder war, trennen mußten, was mir das Herz bluten machte. Gott sey Dank hatte sie an Mary Hope einen wahren Engel als Pflegerin und konnte ich in sofern ruhig sein. In Basel traf ich dann, nach 8 tägigem Warten, bei den lieben Vonder Mühlls, mit Marie zusammen, und gingen wir hierher. Wir wollten auf eine Höhe, aber der Doctor rieth mir einstweilen hier zu bleiben, da er die hohe rauhe Luft nicht zuträglich für mich hielt – vielleicht geschieht es noch im August. Bis vor 14 Tagen kamen wir aus der Sorge nicht heraus, Marie wollte zu Eugenie gehen, Diese bat wieder dringend, daß Marie bei mir bleibe – es waren schreckliche Tage! nun, Gott sei Dank wurde sie sehr viel besser, die Fillunger löste Mary Hope ab, und jetzt lauten die Nachrichten doch sehr viel beruhigender, sie geht wieder spatzieren, und spielt wieder lebensmuthig. Das war eine lange Erzählung – haben Sie Nachsicht, aber ich habe ja das sichere Gefühl Ihrer Theilname. <> Und nun aber wieder zur Hauptsache: nehmen Sie meine so sehr verspäteten Wünsche freundlich wie sonst auf – Sie wissen ja doch, mein Herz ist immer dasselbe für Sie! – In einigen Tagen kommt Frau Wach – ich freue mich herzlich Dieselbe zu sehen, sie ist ein besonderer Liebling von mir. Wie lange hörte ich wieder nichts Näheres von Ihnen und Ihren Kindern. Ist Johannes wirklich aus dem Militär geschieden, wie wir hörten? ist Marie in München engagirt? ist Ihre Frau aus Amerika zurück? wo gehen Sie hin, lieber, bester Freund? bitte, lassen Sie mich bald Näheres wissen. Wie oft schweifen meine Gedanken zu Ihnen, und in die alten Zeiten! ach, das Leben war oft so schön, jetzt ist es so umschattet durch Kummer, Sorgen, und mangelhafte Gesundheit das Kopfleiden ist auch noch immer da, und meine Töchter nur geben mir Trost und Halt fürs Weiterleben. Für den Künstler ist das Altwerden doch ganz besonders schwer – man hat eigentlich mit zwei Naturen zu kämpfen, und muß dankbar sein, wenn Einem noch die Kraft des Fühlens und Verstehens der Kunst bleibt, so wie ich sie bei allem Leide immer noch in mir empfinde. Leben Sie wohl! sähe ich Sie doch bald einmal wieder! –
Marie sendet ihre treuen Wünsche, u. ich bleibe die Alte. Cl. Sch.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Interlaken Pension Ober
  Empfänger: Joachim, Joseph (773)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 2
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Joseph Joachim und seiner Familie / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz / Dohr / Erschienen: 2019
ISBN: 978-3-86846-013-1
1439ff

  Standort/Quelle:*) D-Zsch, s: 6672-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten (Mehr Informationen).
Wenn Sie auf unserer Seite weitersurfen, stimmen Sie bitte der Cookie-Nutzung zu. Ich stimme zu.