23.01.2024

Briefe



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ID: 22656
Geschrieben am: Montag 24.11.1873
 

Hamburg, den 24. November 1873.
Lieber Johannes,
wie oft dachte ich daran, Dir zu schreiben, wie lange blieb ich in der Dankesschuld für Deine Mühen mit meinen Liedern – es war aber eine unbeschreibliche Zeit der Unruhe, durch den Umzug namentlich verursacht; dann aber leide ich sehr viel an Schmerzen in den Hand- und Armgelenken und diktiere fast alles; Du weißt von alters her, wie schwer ich mich aber dazu entschließe, an Dich zu diktieren. Heute muß ich Dir aber Gruß aus Deiner Vaterstadt schicken, die freilich, für Dich besonders, ein anderes Ansehen, innerlich und äußerlich, bekommt. Unsere Vaterstadt sollte uns doch immer so bleiben, wie wir sie geliebt, aber, alles wird anders! In vielen Gegenden wirst selbst Du Dich kaum mehr zurechtfinden, so ändert sich alles. Deine Schwester sah ich, recht befriedigt, mit ihrem, wie mir scheint, respektabeln Manne, der mir gut gefällt und sie auf Händen trägt, wie sie mir sagt. Sie sieht sehr wohl aus, geht aber einer schweren Zeit entgegen – möge sie sie glücklich überstehen! Sie sehnt sich sehr nach Dir und wünscht so sehr, Du sähest sie in ihrem Glück.
In München habe ich schöne Zeit verlebt, hohe Genüsse gehabt, von denen ich den ganzen Winter zehren werde, denn in Berlin ist alles mittelmäßig, außer was von Joachim kömmt. Sogar schön Quartett-Spiel habe ich in München gehört, Deine zwei Quartette. Du kannst Dir denken, mit welchem Interesse ich sie gehört und genossen habe. Manfred war auch ganz wundervoll, nur ergriff mich der Schauspieler Possart, der gewiß ein großer Meister ist, dennoch gar nicht, weil mir seine Darstellung und Sprache durchaus das Resultat großen Nachdenkens und Fleiß scheint, aber weder Organ noch Gebärden auf tiefe Empfindung schließen läßt – so gar keine Saite des Herzens berührt. Die Musik und Ausstattung war wundervoll, nur hatte ich den Schmerz, von der Ansprache an Astarte, worauf ich mich so gefreut, keinen Takt hören zu können, da es so leise gespielt wurde, daß ich nur zuweilen die Violinsaiten rauschen hörte.
Ich habe überhaupt von der Musik viel verloren und fühlte mich im Innersten tief traurig darüber, was ich aber natürlich Levi, der mit so voller Hingabe das Ganze ins Werk gesetzt, nicht merken ließ.
Die Genoveva habe ich nicht abwarten können, weil Marie mich in Berlin zu nötig brauchte. Wie schwer mir diese Entsagung geworden, kann ich nicht beschreiben, und kaum ahnen die Kinder, welchen Liebesbeweis ich ihnen in dieser Entsagung gegeben habe. Was unsereinem ein hoher Kunstgenuß ist, das kann doch nur der Künstler, der es mit Leib und Seele ist, mitempfinden.
Ich wohne hier bei Friedchen, sehr behaglich, besonders auch im Anblick ihres gänzlich befriedigten Wirkungskreises höchst angenehm berührt. Es gibt doch nichts Erquickenderes, als glückliche Menschen sehen! –
Heute gehe ich nach Schwerin, am Mittwoch nach Berlin, Adresse: In den Zelten 11, II. Stock.
Ob Du wohl den Flügel verkauft hast? Es ist doch recht dumm, wenn man jemandem ein so unbequemes Geschenk macht. Man lebt eben oft in Illusionen, die mit den Jahren schwinden, die gütige Natur läßt uns aber doch immer noch einige – ich ertappe mich doch oft noch auf solchen, und möchte sie bewahren, so lange es geht. . . .
Avé grüßt Dich sehr, er ersehnt sich ’mal ein Wort von Dir – willst Du ihn nicht ’mal erfreuen?
Leb’ wohl, lieber Johannes! Sei gegrüßt von Eugenie, die mit mir ist, und erfreue bald durch Brief Deine
alte Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Hamburg
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1245-1249

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 

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