23.01.2024

Briefe



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ID: 22672
Geschrieben am: Montag 20.12.1858 bis: 21.12.1858
 

Wien, den 20. Dezember 1858.
Lieber Johannes,
wie gern hätte ich Dir schon Deine Sachen wieder zurückgeschickt, ich konnte es aber unmöglich, wollte ich sie mehr als flüchtig nur kennen lernen. Du weißt, das Partiturenlesen wird mir nicht leicht, dazu brauche ich Zeit. Endlich gestern und heute gelang es mir, einige Stunden allein zu sein, und nun kenne ich zu meiner Freude alles genau. Dir aber im Detail darüber zu schreiben, habe ich gar keinen rechten Mut! Doch, ich will mir denken, es sei wie früher, wo ich noch vertrauensvoll Dir jede Herzensregung mitteilen konnte! Du weißt, wie ich ohne das Herz nicht viel zu sagen weiß – erst wirkt die Musik dahin, und, hat sie mich ganz erfaßt, dann kann ich erst darüber denken. Was mich am meisten entzückt, ist die Serenade. Da mutet mich gleich der Anfang gar lieblich an, und denke ich mir den Klang reizend. Das 2. Motiv bildet einen schönen Gegensatz zum ersten, und bin ich erst über die Fortschreitung im 3., 4., 5. und 6. Takt hinweg, dann befinde ich mich ganz wohl dabei, beim Eintritt der Fagotten und Klarinetten werde ich ganz warm, und so fort und fort immer mehr bis zum Des dur, von wo an es ganz wunderbar fein und sinnig Seite 14, 15, 16 wird, dann bis zum A dur das letzte  himmlisch! aber der Übergang zum ersten Motiv wieder durch den Orgelpunkt in A, das will mir nicht in den Sinn; hätte nicht der Orgelpunkt auf E sein müssen dem Naturgesetze nach? Denn hier kann doch von keinem anderen die Rede sein, wo das natürliche Gefühl so laut spricht – es klingt mir ganz matt. Das Ende ist nach der Wiederkehr des 2. Motivs mit seinem wundervoll süßen Schluße auf A dur gar schön noch! Die Oboen, wie anmutig, dann die Bässe mit dem 2. Motiv, und was mir so sinnig erscheint, ist die Triolenbewegung mit den vier Vierteln durch das Ganze hindurch – wie muß es auch beim  in der Mitte kräftig wirken.
Kurz, ich kann den Eindruck des Ganzen nur mit dem Schönsten vergleichen, dem der D dur-Serenade, die Durchführung aber finde ich noch weit gelungener.
Bekommt diese Serenade auch noch mehr Sätze?
Der Brautgesang gefällt mir stellenweise sehr, einzelne Sachen, z. B. Seite 14, vom C dur an, dann weiter, wo die vier Stimmen zusammenkommen, außerordentlich, ein wundervoller Takt ist der letzte Seite 15, aber etwas ist mir aufgefallen, die Motive haben mir hier und da etwas Gewöhnliches; z. B. würde ich bei dieser Melodie
[Noten]
eher auf Hiller oder sonst einen raten, als Dich, und schon der Anfang vorher
[Noten]
macht mir diesen Eindruck. Verzeihe, es ist wohl dumm, was ich da gesagt, doch mir drängte sich dies Gefühl bei jedesmaligem Durchspielen des Stückes auf. Ich kann mir nicht recht denken, daß das Stück durch die Melodien frisch wirkt, viel eher durch den Klang.
Der Grabgesang hat mich tief ergriffen; herrlich ist’s, daß erst die Alte allein, dann erst bei „Gottes Posaune wird angehn“ die Soprane eintreten. Wie muß vorher die Pauke ergreifend wirken. Wie wundervoll ist die Zwischenmusik Seite 4 und 5, dann die Steigerung in der Begleitung des Unisonos in den Fagotten und Klarinetten. Das Herrlichste aber ist der Satz von da an „die Seel’, die lebt“, die mußte ich mir immer mehrmals spielen, weil ich mich gar nicht trennen konnte. Eines nur, der 2. Takt A dur gefällt mir nicht recht, da steht es etwas still, während es vorher und nachher so schön fortschreitet. Der Schluß wieder mit den Alten – welch mächtigen Eindruck muß er machen! hast Du’s gehört? könnte man es doch hören! ich hab’ es nun schon tagelang mit mir herumgetragen. Das laß mir einmal an meinem Grabe singen – ich meine, bei diesem Stücke habest Du doch an mich gedacht! –
Von den Liedern gefällt mir am schönsten „Scheiden und Meiden“ – ich mußte mir die Überschrift immer wieder ansehen, weil ich immer dachte, es müßte ein Volkslied sein, ich meine Volksmelodie. Wie sinnig reiht sich das „in der Ferne“ an! Das Ständchen ist auch lieblich – ach, alle die Lieder.
Habe Dank, lieber Johannes, daß Du mir die Sachen gesandt, und laß mir die Freude daran, trübe sie mir nicht durch Äußerungen wie sonst.
Anders fühlen kann ich deshalb doch nicht, was ich aber getadelt, das verteidige gern. Ich begebe mich viel lieber des Unrechts im Tadel als im Lobe. Die Noten gehen mit diesem ab, und ich hoffe, Du erhältst sie noch früh genug, um sie noch in Detmold vor Neujahr zu ordnen. Ich glaubte immer, Du würdest diesmal länger dort bleiben, hat Dich der Fürst nicht gebeten? Gibst Du kein Konzert im Theater? Warum schreibst Du mir nie etwas von der Marschällin? Kommst Du nicht mit ihr zusammen? Hat Dich der Fürst für nächsten Winter wieder gebeten zu kommen? Gehst Du nach Hamburg zu Neujahr? Wie steht’s mit Leipzig? Ich habe neulich abtelegraphieren müssen dort – ein Mißverständnis machte sie glauben, ich käme zum 16. d. M.
Den 21. Ich habe hier schlimme Tage innerer Kämpfe zugebracht, ob ich bleiben oder nach Haus gehen sollte. Auf mehr als drei Konzerte höchstens hatte ich von vornherein nicht gerechnet; nun handelte es sich aber, nach dem großen Enthusiasmus im 3. noch um ein viertes, welches aber erst am 2. Januar stattfinden kann. So bin ich also 14 Tage untätig, d. h. ohne Verdienst hier, habe mich aber heute doch dazu entschlossen, da ich zwar gern meinen Kindern die Freude gemacht hätte, Weihnachten mit ihnen zu feiern, anderseits aber auch mein Herz zu einer fröhlichen Feier nicht kräftig genug fühle, und das Opfer, daß ich gebracht hätte, in keinem Verhältnis stand zur Freude, die ich mit meinem Ich hätte bereiten können.
Ich lege Dir ein Programm des letzten Konzerts bei – Deine Tänze gefielen weit mehr hier als in Pest, das Rufen nahm kein Ende, und ich mußte noch etwas spielen. Das ist überhaupt eine sonderbare Sitte hier, daß die Leute nach dem letzten Stück ganz ruhig sitzen bleiben, bis man noch etwas zugegeben hat; da ich nun gewöhnlich nie vorher daran denke, weil es meinem Gefühle zu sehr widerstrebt, einen Erfolg als gewiß vorher anzusehen, so überrascht mich dann das so sehr, daß ich mich ans Klavier setze, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, was ich wohl noch spielen werde. Ein großes Lieblingsstück der Pester und Wiener ist die Gavotte von Bach (D moll) geworden – ein E… hat sie in Pest gedruckt mit der Aufschrift „von Cl. Sch. in ihren Konzerten gespielt“.
Hier hat man mich schon die ganze Zeit her bestürmt, die Kreisleriana zu spielen, ich finde sie aber so unpassend fürs Konzert; nun muß ich nachgeben, Spina sagt mir geradezu, ich werde ein volleres Konzert machen, wenn ich sie spiele. Ich will eine Auswahl treffen, alle, das geht nicht. Leider kann man hier fast nie mit Orchester spielen, es kostet zu viel.
Daß Dir das Chopinsche Konzert so gefällt, begreife ich sehr gut, der erste Satz ist auch schön, jedoch, wie sollte ich dazu kommen, das zu spielen? Wer so selten Gelegenheit hat, mit Orchester zu spielen, wie ich, der wählt dann doch lieber anderes.
Daß Du aber von Deinem Konzerte so geringschätzend sprichst, tut mir weh aus mehreren Gründen. So schließe es denn in den Schrank – mir kannst Du es doch nie rauben, wenn Du mir auch die Freude, es zu spielen, versagst.
Wegen Leipzig aber bitte ich Dich, mir es gleich mitzuteilen, wann Du dort spielst, weil ich versprochen für neulich, im neuen Jahr einmal zu kommen, ich habe es aber absichtlich ganz unbestimmt gelassen, wann; und will es erst dann tun, wenn Dein Spiel bestimmt ist, denn, was liegt mir daran, ich kann ja das ganze Jahr hingehen, und ist’s Dir auch gleich, so mir doch nicht, ob Du Dein Konzert dort spielst oder nicht, auch wieder aus mehreren Gründen.
Vorgestern wurde im großen Redoutensaale die Peri aufgeführt – Chor und Orchester schön, die Solisten aber schwach, bar aller Poesie (die Peri ausgenommen); es hat aber sehr gefallen. Ich war in großer Wonne über die herrliche Musik – die Instrumentation ist doch ganz wundervoll oft, nur scheint mir etwas monoton zuweilen, namentlich die Blasinstrumente. Du glaubst aber gar nicht, welch großen Anhang Robert hier gewonnen, wie das Verständnis für Ihn gewachsen. So neulich z. B. hat das 2. Trio den größten Enthusiasmus hervorgerufen, ebenso das Quartett in F dur, wo das Publikum Adagio und Scherzo wiederholt haben wollte, sowie auch im Trio. Das macht mir doch Freude, bin ich auch sonst ziemlich gleichgültig gegen Publikum. Sie schreiben sich hier auch die Federn ab über Ihn, viele E… auf Kosten Mendelssohns, einige aber sehr schön, z. B. Hanslick, Bagge und Debrois.
Von letzterem erhielt ich vor einigen Tagen Brief des Inhalts, daß er mich nicht besucht habe, weil er teils direkt, teils indirekt erfahren habe, daß er in meinem Herzen keinen Platz einnehme, und sich mit anderen Gleichgültigen auf gleichem Platze zu sehen, das könne er nicht etc. etc. Ich habe natürlich nicht geantwortet. Als ob es so leicht wäre, in meinem Herzen einen Platz zu gewinnen – da muß einer die allergrößte Berechtigung haben. Potztausend, in diesem Punkte bin ich stolz! – Grüße die Prinzeß – ich schreibe ihr nun wirklich nächstens.
Von Joachim hatte ich recht liebe Briefe – er schrieb mir von seinem ungarischen Adagio, welches Du so freundlich gelobt habest. Bitte, sage mir etwas darüber; ist’s klarer wie gewöhnlich seine Sachen? Ich möchte es so gern, er schriebe einmal etwas Freundliches – mich ärgert das gänzliche Verkennen seiner produktiven Kraft von seiten der Musiker so schrecklich.
Du müßtest auch endlich einmal wieder etwas herausgeben, d. h. mehrere Werke zusammen; zu lange Pausen sind nicht gut. Ich verstehe es aber nicht, es ist nur so mein Gedanke.
Drei Besuche sitzen augenblicklich hinter mir, ich muß also schließen. Schreibe mir bald und einmal lang, wenn Du kannst. Meine Adresse ist immer dieselbe, „Diabelli am Graben“.
So leb denn wohl! Gedenke meiner!
Deine
Clara!

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Wien
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Detmold
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
581-589

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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