23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 22927
Geschrieben am: Sonntag 28.05.1893
 

Liebe Clara.
Seit über 8 Tagen bin ich in Ischl u. glaubte Dir’s geschrieben zu haben, auch über Widmann glaubte ich ausführlicher gewesen zu sein. So will ich denn, nach herzlichem Dank für Brief u. Karte von Dir, ein wenig deutlicher erzählen.
In den Lagerraum hinabspaziert ist er nicht, aber die Ketten u. Ballen wollten ihn mit hinabreißen u. nur ein Fuß <blieb> wurde zum Glück irgendwie u. wo festgehalten, so daß er aus der schrecklichen Schwebe befreit werden konnte.
|3| Den (schon einmal gebrochenen) Fuß brach <>er bei der Gelegenheit wieder. Wir blieben mit ihm in Neapel, verbanden ihn abwechselnd fleißig, (machten aber dazu die schönsten Parthien) bis er mit einem Gyps-Verband transportirt werden konnte. Hegar fuhr mit ihm nach Bern, Freund u. ich aber, da wir weiter nichts nützen konnten, nach Venedig. Wir reisten Alle grade am 7ten Nachmittags.
Falls Du ihm die Freude eines Grußes machen willst, ist die Adreße einfach: J. V. W. Redakteur des „Bund“, Bern.
|2| Daß Du mir von den Handschriften anbietest, ist doch gar zu lieb u. freundlich. Die Verführung ist, Gott sei Dank, aus dem Weg u. so bleibt nur mein allerschönster Dank. Mit der Medaille wär’s einfacher gewesen. So viel Sorge wie Du habe ich nicht für derlei Sachen, sie liegen bei mir in offnen Schränken u. nur Handschriften u. Briefe in verschlossenen.
Ich bin in Versuchung Dir ein kleines Clavierstück abzuschreiben, weil ich gern wüßte, wie Du Dich damit verträgst. Es wimmelt von Dissonanzen! Diese mögen recht sein u. zu erklären – aber sie schmecken Dir vielleicht nicht u. da wünschte ich, sie wären weniger recht aber appetitlich u. nach Deinem Geschmack. Das kleine Stück ist |4| ausnehmend melancholisch u. „sehr langsam spielen“ ist nicht genug gesagt. Jeder Takt u. jede Note muß wie ritard. klingen, als ob man Melancholie aus jeder einzelnen saugen wolle, mit Wollust u. Behagen aus besagten Dissonanzen!
Herr Gott, die Beschreibung wird Dir Lust machen!
– Heute hatte ich seit langer Zeit wieder einen Brief von Freifrau v. Heldburg, die sogar nach Meiningen zurück reist – gewiß ein gutes Zeichen.
Für jetzt nur noch die herzlichsten Grüße Euch Beiden
von Deinem
Johannes

[Beilage]
Thunersonate von Johannes Brahms.
(Violin- und Klaviersonate Opus 100.)
Von J. V. Widmann (Bern).
Am kommenden 7. Mai begeht Johannes Brahms seinen sechzigsten Geburtstag. Der Dichter des obigen Festgrußes erinnert daran, daß der Meister mehrere Sommer lang in einem Haus an der Aare bei Thun gewohnt und komponiert hat, von wo sich der schönste Blick nach der alten Stammburg des Minnesängers von Strätlingen und nach der „Goldenen Au“ zu deren Füßen eröffnet.◊1

[Notenbeispiel]
Dort, wo die Aare sanft dem See entgleitet
Zur kleinen Stadt hinab, die sie bespült,
Und Schatten mancher gute Baum verbreitet,
Hatt’ ich mich tief ins hohe Gras gewühlt
Und schlief und träumt’ am hellen Sommertag
So köstlich, wie ich kaum es künden mag.

Drei Ritter sprengten an, klein wie nur Elfen,
Auf feinen Zeltern, aber Kön’gen gleich.
Dreistimmig sprachen sie: „Willst du uns helfen
Ein Kleinod suchen, Mann, in diesem Reich?
Auch, wir, gleich jenen einst auf Bethlems Flur,
Gehn hier auf eines Himmelskindes Spur.“

„Wer seid ihr selbst?“ fragt’ ich im Traum dagegen.
Sie sprachen: „Ritter aus der goldnen Au,
Die dort am Fuß des Niesen ist gelegen.
Auf unsern Burgen klang manch holder Frau
Einst zarter Gruß von unserm Saitenspiel,
Das ungern starb, als Burg um Burg verfiel.
„Nun aber hat sich hier am See erschwungen
Ein Saitenton, wie wir ihn nie gehört.
So hat vielleicht einst Davids Spiel geklungen,
Erquickend Saul, als ihm sein Sinn verstört.
Er zog zu uns, wehmüthig, süß und stark
Und traf mit Sehnsucht uns ins tiefste Mark.

„Hilf uns denn suchen, da von diesen Auen,
Von diesem grünen Ufer kam der Klang;
Das neugeborne Wunder laß uns schauen,
Ihm huld’gen nach des Herzens frommem Drang.
Wo birgt sich das melod’sche Himmelskind?
Schläft’s unter Blumen? schwebt’s im Abendwind?“

Da, als sie fragten noch, drang von den Wellen
Des Flusses her ein Spielen wundersam.
Und sieh! – Ein Feennachen, von Libellen
Gezogen, dort stromauf geschwommen kam.
Feingliedrig saß ein blondes Mägdlein drin
Und sang gar wonniglich so für sich hin:

[Notenbeispiel]
„Hold ist’s, auf klarer kühler Flut zu fahren,
Da klar auch meines Lebens tiefer Quell,
Hold ist’s, so Leid als Lust zu offenbaren,
Denn beide strömen voll und stark und hell.
Fahr zu, mein Schiff, stroman mit gutem Mut
Auf sanfter Flut, in der der Himmel ruht.“

So sang das Feenkind und mächtig schwollen
Die Herzen aller, die den Sang erlauscht.
Die Ritter blickten stumm und Tränen quollen
Von einem Weh, das wonnig doch berauscht.
Dann, als das Schifflein ihrem Blick entschwand,
Sprach so der Aelteste, winkend mit der Hand:

„Leb wohl, du schönes Wunder dort im Nachen,
Du wonnesame, süße Melodei!
Wir, die den Hort des Minnesangs bewachen,
Wir grüßen dich, du edle fremde Fei!
Du hast dies Land, sangfroh in alter Zeit,
Mit deinem Lied zu neuem Ruhm geweiht.

„Nun mögen wir uns wieder schlafen legen,
Der Harfe heil’ge Seele schlummert nicht.
Und wie der Sonnenstrahlen Abendsegen
Dort auf den Bergen glüht mit Purpurlicht,
Doch auch die weiten Lande rings erhellt,
So schwingt dies Lied sich um die ganze Welt.

„Doch, mag es klingen auch vor tausend Ohren,
Im Fürstensaal, in stolzen Städten viel, –
Es bleibt doch unsres Landes, hier geboren
An dieses klaren Flusses Wellenspiel.“
So rief der Minnesänger, glutentfacht.
Mein Herz sprach: Ja! – Da war ich aufgewacht.

  Absender: Brahms, Johannes (246)
Absendeort: Ischl
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
Empfangsort: Frankfurt am Main
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
2116-2121

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus.Nachl. Schumann, K. 7,274
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten (Mehr Informationen).
Wenn Sie auf unserer Seite weitersurfen, stimmen Sie bitte der Cookie-Nutzung zu. Ich stimme zu.