23.01.2024

Briefe



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ID: 22983
Geschrieben am: Dienstag 18.11.1862
 

Liebe Clara,
Inliegenden Brief fühle ich das Bedürfnis Dir mittheilen zu müßen.
Er ist mir ein viel traurigeres Ereigniß als Du denkst u. vielleicht begreiflich findest.
Wie ich überhaupt ein etwas altmodischer Mensch bin, so auch darin daß ich kein Cosmopolit bin sondern wie an einer Mutter an m. Vaterstadt hänge. Nun mußt Du wissen daß diesen Herbst schon die Sing-Akademie ernstlich daran dachte einen 2ten Dirigenten zu nehmen. Da war nur die Rede von Deppe u. mir. Grade vor m. Abreise hierher frug man privatim bei mir an, ob ich etwa geneigt sei. Nun kommt dieser feindliche Freund u. stößt mich für immer wohl fort.
Wie selten findet sich für Unser einen eine bleibende Stätte, wie gern hätte ich sie in der Vaterstadt gefunden. Jetzt, hier, wo mich so viel Schönes erfreut, empfinde ich doch, u. würde es immer ┌empfinden┐, daß ich fremd bin u. keine Ruhe habe.
|2| Du hast die Sache gewiß schon erfahren u. auch vielleicht an mich dabei gedacht, aber, es ist Dir wohl nicht erschienen, als ob mir so großes Weh geschähe. Doch braucht’s nur eines Fingerzeiges <dß> daß Du siehst wie viel mir entflieht. Konnte ich hier nicht hoffen, wo soll ich’s? wo mag u. kann ich’s? Du hast an Deinem Mann erlebt u. weißt es überhaupt daß sie uns am liebsten ganz <b> los lassen u. allein in der leeren Weite herum fliegen lassen. Und doch möchte man gebunden sein u. erwerben was das Leben zum Leben macht u. ängstigt sich vor der Einsamkeit. Thätigkeit in regen Verein mit andern u. im lebendigen Verkehr, Familien-Glück, wer ist so wenig Mensch, daß er die Sehnsucht danach nicht empfindet?
Des Weiteren unterhalte Dich, wie mein freundlicher Feind auf so honigsüße Weise mir das Gift zu trinken giebt. Auf der einen Seite von der Zukunft die mir blüht, spricht u. auf der andern, dies schon vergessend, sich auf die Zukunft ohne mich freut.
Ich schreibe noch einige Zeilen an die Eltern die auch für Dich sind. Der Inhalt dieses Briefes u. sein Dasein überhaupt ganz unter uns u. besonders nicht für Avé Stockh. u. die Eltern.
Herzlich der Deine
Johs.

  Absender: Brahms, Johannes (246)
  Absendeort: Wien
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
Empfangsort: Hamburg
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
852f.

  Standort/Quelle:*) D-B: Mus. Nachl. K. Schumann 7, 132
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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