23.01.2024

Briefe



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ID: 23119
Geschrieben am: Dienstag 14.01.1868
 

Brüssel, den 14. Januar 1868.
13 rue de la Charité.
Mein lieber Johannes,
auf Deinen letzten Brief hättest Du längst Antwort gehabt, wäre ich meinem Herzensdrange gefolgt, aber wir haben schwere Zeit durchgemacht, und erst jetzt komme ich wieder etwas zu innerer Ruhe. Unsere Julie war sehr leidend in Divonne, und zwar so, daß sie nicht zum Feste kommen konnte, und ich schließlich noch Marie hinschickte (24 Stunden Reise), um sich selbst von ihrem Befinden zu überzeugen. Die Ärzte sagen nun immer, sie sei organisch ganz gesund, nur die Nerven so herunter, doch, ist das nicht schlimm genug? weiß man doch nicht, wo es anpacken. Sie hat Kaltwasserkur gebraucht, ist dabei etwas unvorsichtig gewesen, hat trotz meiner flehendsten Bitten, es nicht zu tun, dennoch täglich 2 Sturzbäder genommen und ist, ich glaube bestimmt, infolge dieser Übertreibung so schwach geworden, daß sie 4 Wochen lang keinen Schritt mehr gehen konnte, vom Bett aufs Sofa getragen wurde. Das Schreckliche dabei war nun immer die furchtbare Sehnsucht, die sie nach uns hatte, und die fortwährende Erregung, in der sie war, solange ich in Frankfurt, weil sie noch immer dachte, kommen zu können. Dort sind sie mit der Wasserkur wahrhaft fanatisch, und der Arzt sagte, es sei die Krisis etc. Seit einigen Tagen lauten die Nachrichten besser, und ich werde nun auch ruhiger. Ich war so unglücklich, daß ich nicht selbst hin konnte, aber ich durfte jetzt vor den vielen Anstrengungen meine Kräfte nicht dermaßen in Anspruch nehmen, und das lange Fahren greift mich mehr an, als irgendetwas. Du kannst Dir denken, daß wir das Fest, obgleich Ferdinand mit uns war, doch nicht vergnügt verlebten – der Gedanke an unser armes leidendes Julchen lastete auf uns. Es ist doch gar zu traurig, daß ich sie so wenig um mich haben kann, und wir haben uns doch so ungeheuer lieb! Ihre hingebende schwärmerische Natur ist mir so sympathisch, und mit ihr ist mir immer, als wäre ich selbst noch ein junges Mädchen. Doch genug jetzt, das Herz ist eben so voll, daß es überfließt.
Zu Dir und Deinem Brief, lieber Johannes. Wie konntest Du denken, ich würde denselben mißverstehen? Was Du über J. sagst, ist ja ganz und gar dasselbe, was ich stets im Verkehr mit ihm empfunden, und namentlich vorigen Winter in England mich oft aufs tiefste betrübt hat; ich fürchte, je mehr er in der Welt lebt, desto mehr nimmt es überhand. Ich begreife es geradezu nicht, denn ich finde, daß das Leben mit so vielen verschiedenen Menschen erst recht die Gesinnung befestigt; je mehr man das Scheinleben kennenlernt, muß es einen ja mehr und mehr anwidern und um so strenger dagegen machen. Bei mir steigert sich diese Empfindung immer mehr, und ich kämpfe im Gegenteil immer mit mir, nicht zu wenig zu tun, was Joachim zu viel tut. Das aber, daß Joachim nur mit Dir konzertiere, weil Du eben gerade da, gebe ich nicht zu; ich weiß, wie oft er Dich dazu aufgefordert, wo Du es abgelehnt, weiß überhaupt, daß er mit keinem Menschen so gern musiziert, wie mit Dir – ein Verdienst ist das freilich nicht!
Über mein Konzertieren spräche ich lieber ’mal mündlich mit Dir. Ich fühle selbst das, was Du sagst, recht oft, aber Du weißt ja, was alles auf mir lastet, und möchte ich doch gern so weit kommen, daß ich für mich wenigstens keiner Hilfe mehr bedürfte. Dann aber fühle ich meine Kräfte, was das Musikalische betrifft, keineswegs abnehmen, sondern habe das sichere Gefühl sehr oft, daß ich viele der Sachen, die ich spiele, geistig sowohl wie technisch mehr beherrsche als früher, und daß ich doch noch manches nützen kann. Ich habe z. B. vor einigen Tagen das Konzert von Robert, das vorher hier durchgefallen war, vor einem Publikum von 3 000 Menschen mit einem Succeß gespielt, wie ich mich selten erinnere erlebt zu haben. Das war mir nun doch eine Freude und ein neuer Beweis, daß es noch immer geht – eigentlich kann ich wohl sagen, daß die Anerkennung seitens des Publikums sich in den letzten Jahren sehr gesteigert hat. Ich dränge niemandem Roberts Sachen auf, aber zur Verbreitung derselben so viel tun zu können, wie man es ja jetzt überall von mir fordert, ist mir doch eine große Freude. Ich könnte noch mancherlei sagen, aber ich habe schon so viel geschwatzt, und bin noch nicht ’mal zu dem gekommen, woran ich seit Deinem Briefe so viel gedacht, nämlich Dir zu sagen, wie sehr ich der Hoffnung lebe, am 10. April unter Deinen Zuhörern sein zu können. Ich habe mir, wie immer in England, die bestimmte Zeit bis zur Osterwoche gesetzt, und hoffe auch diesmal, es durchzusetzen. Mir schlägt ordentlich das Herz höher auf, wenn ich daran denke, Dein Requiem so bald zu hören, wenn nur sonst mir nichts dazwischen kommt! Etwa irgendeine Familien-Angelegenheit! Nun, einstweilen will ich hoffen!
Stockhausen schrieb mir vor wenig Tagen, man erwarte Dich in Hamburg, daher will ich diesen Brief an Deine Schwester senden, und es sollte mich freuen, käme er Dir ein Gruß wie früher in dem alten lieben Hamburg.
Ich gehe am 23. von hier nach London. Provinz-Reisen mache ich diesmal nur in den ersten 2 Wochen, dann bleibe ich meist in London, habe also weniger Anstrengung des Reisens.
Laß, bitte, bald von Dir hören.
Deine alte Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Brüssel
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Hamburg
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1085-1088

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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