23.01.2024

Briefe



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ID: 23145
Geschrieben am: Samstag 08.04.1871
 

London, den 8. April 1871.
Lieber Johannes,
Du solltest eigentlich gestern abend meinen herzlichen Gruß haben, aber ich war die letzte Zeit so gehetzt, daß ich nicht ’mal meinen Kindern schreiben konnte. Im Geiste war ich aber gestern bei Dir und vergegenwärtigte mir ganz den wundervollen Abend vor zwei Jahren. Möchtest Du auch gestern wieder ungetrübten Genuß an Deiner herrlichen Schöpfung gehabt haben. Wie freute es mich, daß Du in Wien so schönen Erfolg hattest – ich las davon zu verschiedenen Malen. Wie warst Du zufrieden mit Deinem Triumphmarsch? oder -Lied! Wo und wie war es? Du wirst jetzt angenehme Tage in Bremen und Oldenburg haben – wie gern verfolge ich solche in Gedanken! Welch ein Segen ist es doch für den beschäftigten Menschen, daß für Gedanken es weder des Raumes noch der Zeit bedarf! –
Ich bin nun ’mal wieder fertig hier, war wieder wie auf Händen getragen von allen, trotzdem aber immer furchtbar ängstlich vor dem Publikum, spielte aber dennoch meist sehr glücklich. Ich habe auch einige Male von Dir gespielt, Balladen, Walzer; ungarische Tänze kommen noch am 20. in meiner Matinee hier im Hause. Das A dur-Quartett wäre darangekommen diesmal, es stand schon auf den vorläufigen Programms, wäre nicht erst Piatti krank gewesen, so daß wir wochenlang Sachen spielen mußten, die wir ohne Probe riskieren konnten, dann spielten mir die übermüdeten Muskeln einen Streich – ich durfte ein so anstrengendes Stück nicht wagen, weil ich dreimal wöchentlich zu spielen hatte und viele Kräfte brauchte. Ich hatte mich an Deinen Händel-Variationen verdorben, die ich durchaus in meinem Rezital spielen wollte und schließlich doch darangeben mußte, weil ich nicht die Kräfte hatte. Ich kann nicht sagen, wie leid es mir ist, daß diese Variationen, für die ich so begeistert bin, über meine Kräfte gehen.
Von Ferdinand hatten wir soweit gute Nachricht, nur muß der arme Kerl, wer weiß wie lange noch, vor Paris aushalten; er hat viel Anstrengung, dabei leidet er vielen Mangel und hat nur eine dünne Strohlage als Bett, seit Wochen schon. Das ist hart. An Einzug ist unter diesen Umständen in Paris doch noch nicht zu denken. Wir denken jetzt ernstlich an unsere Abreise.
Am 22. gehen wir nach Brüssel für 2 Tage, dann bis zum 28. nach Düsseldorf zu Bendemanns, von dort über Koblenz, wo wir Seligmanns besuchen wollen, die uns sehr gebeten, nach Baden in unser liebes Häuschen – dort hoffen wir spätestens am 1. Mai einzuziehen. Trotz aller Liebe hier zähle ich doch die Stunden, bis ich wieder deutschen Boden betrete und deutsch sprechen höre.
Sage mir doch bald, was Du vorhast? Fürerst gehst Du wohl nach Hamburg?
Hast Du meinen Felix in Berlin nicht gesehen? Du warst ja dort, wie ich hörte, bei Tausig!!! Felix ist jetzt zu unserer Freude Ober-Primaner geworden; er war selbst sehr gespannt, ob er versetzt werden würde!
Mit Ludwig bleibt es immer dasselbe – welch hartes Geschick! Wir schreiben ab und zu, er antwortet aber nie, und vom Arzt hören wir selten.
Du weißt, wo mich Nachrichten von Dir treffen, mache, daß mir bald solche zukommen, damit ich weiß, wo Dich mit den Gedanken zu finden.
So lebe denn wohl, lieber Johannes, und gedenke Deiner alten
Clara.
Grüße Rheinthalers und Dietrichs.
Marie und Eugenie, die hier viel des Interessanten sehen und genießen, grüßen schönstens.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: London
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Bremen
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1177-1181

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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