23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 23149
Geschrieben am: Montag 14.08.1876
 

Klosters, Graubünden, den 14. August 1876.
Liebster Johannes,
ich hätte Dir schon ’mal wieder geschrieben, hatte aber recht vieles zu erledigen, und besonders nahm mein Tagebuch, mit dem ich wieder ’mal um ein Jahr im Rückstand war, all meine Schreibe-Kraft in Anspruch. Jetzt bin ich damit fertig, und nun muß ich ’mal etwas mit Dir plaudern, wenngleich es meinerseits wenig zu erzählen gibt. Von Kiel, wo ich bei Litzmanns einen wirklich erquickenden Aufenthalt hatte, ging ich nach Büdesheim, traf dort die Kinder, blieb mit ihnen noch eine Woche bei Elise, die diesmal nicht mit uns ging, und vor vier Wochen kamen wir hierher. Hier ist es uns nun wieder äußerst behaglich, wir wohnen wieder in unserem alten Zimmer, dabei ist das Hotel nicht groß, und man also durch niemand belästigt; nette Gesellschaft haben wir an Volklands, die schon vor uns hier waren und noch bis Ende d. M. bleiben; mit denen machen wir oft Spaziergänge auf die herrlichen Matten und genießen überhaupt in vollen Zügen die wunderbar kräftigende Luft. Eine große Annehmlichkeit habe ich noch, die ich indirekt Dir verdanke, nämlich ein Pianino von Mortmer aus Zürich, der sich erbot, mir ein solches gratis zu leihen aus Dankbarkeit für das Zeugnis, welches ich ihm vor 2 Jahren durch Dich geschickt. Ich nahm dies an, natürlich aber trage ich die Kosten des Transportes, was er erst gar nicht zugeben wollte. So studiere ich denn täglich 1–2 Stunden und musiziere öfters mit Volkland.
Ich spielte neulich ’mal Variationen à 4/m. über ein Thema von Dir von Herzogenberg, die mich doch überraschten durch ihre Sinnigkeit. Kennst Du sie? Man merkt wohl sehr Deinen Einfluß, doch das schadet nicht, fällt solcher auf fruchtbaren Boden – auszusetzen hätte ich freilich auch verschiedenes an den Variationen, z. B. daß die erste schon gleich das gewiß nicht leichte Thema im Basse bringt, ehe es einem noch so recht eingegangen ist etc. Mit Volkland spreche ich oft von Dir, er ist ein begeisterter Anhänger Deiner Sachen, kennt natürlich alles! – Er will immer von mir wissen, was Du jetzt komponiert? Ich weiß es aber ja leider selbst nicht, und, so lange, nichts von Dir! Bitte, sage mir bald, wie es Dir geht und was Du treibst? Wo Du bist? Hast Du wirklich in Saßnitz ausgehalten? Und wie lange denkst Du noch dort zu bleiben?
. . . . Von Levi weiß ich lange nichts – jetzt ist ja alles in Bayreuth – Gott sei Dank, daß man hier friedlich von allem Schwindel fern lebt. Wie mag es aber wohl mit den beiden Kapellmeistern stehen? Weißt Du etwas davon? Für die nächste Zeit haben wir uns ziemlich fest entschlossen, am Vierwaldstätter See zu bleiben (im September), und zwar an einem weniger besuchten, schattig gelegenen Orte, Hertenstein, 1/4 Stunde von Luzern, wo auch Volklands hingehen und dort Herzogenbergs erwarten. Gehen wir dahin, so haben wir zugleich die Annehmlichkeit, mit Felix noch ein paar Wochen länger sein zu können. Es geht ihm wohl besser, aber ich bleibe konsequent, ihn noch nicht mit nach Berlin zu nehmen, da er doch noch nicht geheilt ist, noch viel hustet. Ende September wollen wir noch auf 8 bis 14 Tage nach Baden zu Frau Kann, dann, die Kinder wenigstens, nach Berlin. Ich möchte dann ein Versprechen in Mannheim (für das Orchester zu spielen) erfüllen, und habe auch in Barmen Engagement etc. etc.
Marmorito quält mich sehr, nach Passerano zu kommen, aber dazu kann ich mich nicht entschließen! Den Comer See haben wir daher, und auch aus pekuniären Rücksichten, aufgegeben. Wenn man sieht, wie ein jeder jetzt spart, mag man doch nicht so leichtsinnig sein, Summen für sein Vergnügen auszugeben. Was ich hier für mich tue, ist mir Bedürfnis und trägt mir reichlich Zinsen im Winter.
Vor einigen Tagen hatten wir einen großen Schreck, und noch bin ich ganz davon ergriffen. Denke Dir, die Post verunglückte eine halbe Stunde vor Klosters durch Unvorsichtigkeit beim Ausweichen, es geschah zum Glück an einer Stelle, wo der Wagen etwa eine Etage hoch herabstürzte, aber dennoch blieb ein junger Mensch von 20 Jahren, dem sein Vater für ein brillantes Examen die Freude einer Schweizer Reise machen wollte, auf der Stelle tot, während sein Vater, der oben vom Kabriolett heruntergesprungen war, unversehrt blieb; fünf andere waren verletzt, 3 Pferde auf der Stelle tot! Es war ein schrecklicher Abend, wir die Post wie gewöhnlich erwartend, die natürlich nicht kam, in der Dämmerung schon, 5–6 Wagen mit Führern und Doktoren hinausfahren zu sehen, nach 1 1/2 Stunden dann die Verletzten in langsamen Schritt zurückbringend – der Vater mit der Leiche blieb an einem näherliegenden Orte und war halb wahnsinnig vor Schmerz. Ich muß immerfort an ihn denken. – Welch ein grausames Schicksal. Ich habe doch gesehen, wie recht ich stets habe, wenn ich mich hier bei den engen Chausseen und besonders beim Ausweichen ängstige.
Nun habe ich doch zwei Bogen fast geschrieben – sende mir recht bald wenigstens einen, ich sehne mich nach Nachrichten, lieber Johannes.
Wir grüßen Dich alle herzlichst, zumeist ich Dich in alter Treue.
Deine
Clara.
Wir sind bis Ende August hier, Pension Florin.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Klosters
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Sassnitz
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1324-1328

  Standort/Quelle:*) unbekannt
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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