23.01.2024

Briefe



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ID: 23167
Geschrieben am: Mittwoch 02.05.1877
 

Berlin, den 2. Mai 1877.
Liebster Johannes,
das war ja eine wundervolle Überraschung! Welche herrlichen Lieder sind das! Ich habe dieser Tage viel daran zugebracht, hätte ich nur gleich eine recht fixe Sängerin dabei gehabt – so mußte ich mir alles herausstöhnen mit meiner heiseren Stimme. Nun willst Du haben, daß ich auch kritisiere, werde ich Dich dann nicht erzürnen, wenn ich sage oder gar bitte, Du möchtest die schönsten Lieder in zwei Heften herausgeben, und die einigen unbedeutenden ganz weglassen?
Ich will ’mal von vorn anfangen und sagen, wie es mir erschien (vielleicht irre ich in manchem, und hast Du damit Nachsicht):
Op. 69, 1. „Klage“ spricht mich nicht an, die Begleitung hat etwas Gesuchtes, und die Melodie fließt mir nicht anmutig.
Nr. 2. „Klage“ eigentümlich der Volkston, gefällt mir.
Nr. 3. „Abschied“ ist mir durchaus unsympathisch, das Vorspiel schön, wie auch die Fortschreitungen in der Mitte.
Nr. 4. „Der Liebsten Schwur“, gehört zu meinen Lieblingen, muß reizend klingen, leicht und humoristisch gesungen.
Nr. 5. „Tambourlied“ gefällt mir nicht, erinnert auch im Vorspiel gar sehr an Schubert.
Nr. 6. „Vom Strande“ liebe ich sehr Anfang und Ende, aber im Mittelsatz interessiert mich die Melodie zu wenig.
Nr. 7. „Über die See“ gehört zu denen, die ich wegließe, ebenso
Nr. 8. „Salome“.
Nr. 9. „Mädchenfluch“ ist eines meiner Lieblinge – da ist die Musik so durchweg schwungvoll und interessant vom Anfang bis Ende, daß ich den häßlichen Text darüber vergesse.
Op. 70. 1. „Im Garten am Seegestade“ herrlich, darin kann man womöglich träumen.
Nr. 2. „Lerchengesang“ schöne Stimmung, melodisch mir nicht so lieb.
Nr. 3. „Serenade“ behagt mir nicht, ich kann keinen natürlichen Fluß darin finden, und noch am Schluß die Verlängerung des Textes macht es so steif.
Nr. 4. „Abendregen“ ist mir der Text gar schwulstig, das Ganze kommt gar nicht wie aus dem Herzen, kommt mir mühsam vor, solcher Text kann doch auch nicht begeistern.
Op. 71. 1. „Es liebt sich so lieblich“ liebe ich sehr, nur wünschte ich am Schlusse die Sechzehntel hinweg, diese bringen mich aus der Stimmung.
Nr. 2. „An den Mond“ großer Liebling, wunderbar schön und fein der Schluß allemal.
Nr. 3. „Geheimnis“ wieder ein herrliches Lied, entzückend die zweite Hälfte.
Nr. 4. „Willst Du, daß ich gehe“ liebe ich nicht sehr, mag auch den Text nicht, ist mir gar zu deutlich, jedoch denke ich mir, ich könnte es gern ’mal von einem guten Sänger hören.
Nr. 5. „Minnelied“ fängt hübsch an, aber wird immer zum Schluß matt in der Melodie.
Op. 72. 1. „Alte Liebe“, das war schon eine alte Liebe, oh wie herrlich ist das! Und
Nr. 2. „Sommerfäden“ wie schön! Nur stört mich da das Wort „Fetzen“ so sehr – ließe sich dafür kein anderes finden?
Nr. 3. „Oh kühler Wald“ wundervoll! –
Nr. 4 und 5, große Lieblinge, welch ein Schwung und Leidenschaft in Nr. 4 „Verzagen“ und wie ganz originell das Schlußlied. (Das kannte ich auch.)
Nun habe ich es ganz gemacht, wie Du wolltest, zürnst Du mir aber nicht? Du weißt jedoch, ich kann mich nie zu einer Begeisterung bereden, wo ich sie nicht unwiderstehlich empfinde.
Die Lieder, die ich Deines Namens nicht würdig finde, sind gerade ein Heft, ich meine, lieber 2 Hefte alle bedeutend, als drei mit untergelaufenem Unbedeutendem. Ich habe Simrock noch nichts gesagt, daß ich die Lieder habe, will sie auch gern noch ein paar Tage behalten, da ich Herzogenbergs morgen auf einige Tage bei mir zum Besuch erwarte und wir dann zusammen noch einige genußreiche Stunden damit feiern wollen. Was Du Honorar für die Lieder bekömmst, kann ich nicht raten, etwa 100 Louisdor? (1 500 Mark?) Aber für die Symphonie hörte ich 18 000 Mark – ist dem so?
Das Presto von Bach wird mir lange eine harte Nuß bleiben – das ist so recht meine Liebhaberei, so etwas zu lernen, bis daß es flink geht. Was Du doch immer aussimulierst! Hab’ Dank, und vor allem für die Liedergabe.
Wegen Deinem Gelde sprach ich schon ’mal früher mit Mendelssohn, konnte es jetzt nicht tun, weil er seit 2 Wochen schon verreist ist. Er riet damals sehr zur Bank . . . . Ich sage Simrock, er soll einstweilen das Geld an sich behalten, meinst Du nicht? Oder soll ich Dir dafür jedenfalls gleich von Mendelssohn Papiere besorgen lassen?
Ich kann heute nicht mehr, die Hand schmerzt mich. Weiteres nächstens.
Mit herzlichen Grüßen
Deine
Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Berlin
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1360-1364

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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