23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 23416
Geschrieben am: Montag 06.05.1895
 

Frankfurt, den 6. Mai 1895.
Lieber Johannes,
wieder ein Jahr vorüber, auf das Du und wir mit Freude zurückblicken können, Dir brachte es manch schöne Anerkennung, uns zweimal Dich! – Möchte sich all das Gute auch im nächsten Jahr wiederholen! Ich blicke nur noch in die nächste Nähe und lasse die Gedanken lieber rückwärts schweifen! – Der Himmel erhalte Dir die herrliche Gesundheit Körpers und des Geistes, das wünsche ich Dir vor allem, der Segen kommt dann von selbst. Fritschens haben Dich besucht, leider habe ich ihren Besuch verfehlt, der mir nähere Nachrichten von Dir gebracht hätte. So weiß ich nun nicht einmal, ob Du nach Italien gehst? Am Ende trifft Dich mein Gruß gar nicht in Wien? –
Wir sind leider gar nicht fortgekommen, was uns doch recht nötig gewesen wäre. Aber das Wetter war, grade für meine Leiden, zu unsicher, entweder hatten wir Nordost oder Regen tagelang, der wieder alles feucht machte; einmal hatten wir die Koffer schon gepackt, wollten wenigstens nach Homburg für ein paar Tage, da wurde uns Eugenie während dem Packen so unwohl, daß wir nicht mehr an Reisen denken konnten, und jetzt hat der Unterricht wieder begonnen, und da können wir nicht fort! –
Du hörst doch manchmal gern eine Stadtneuigkeit, für mich ist sie mehr als das, denn sie hat mein Herz freudig bewegt. Du weißt, daß die junge Frau Scholz um ihren ältesten Sohn (10 Jahre alt) gekämpft hat. Die Scheidung ist vor einigen Monaten erfolgt, aber der Junge wurde ihr nicht zugesprochen, nur die zwei jüngsten Kinder. Scholz nun heiratete in diesen Tagen eine Amerikanerin (Witwe mit 3 Kindern). Der Kleine sollte zu der Stiefmutter kommen, und da ist die Mutter, die ihn in den Osterferien bei sich hatte, mit ihm und den anderen Kindern geflohen, niemand weiß, wohin, man vermutet aber, nach Norwegen oder England! Sie hatte so entsetzliche Angst, daß ihr Mann nach Amerika gehe und dann das Kind mit fortnehmen würde. . . . Ich bewundere Frau Scholzens Energie, begreife sie aber vollkommen.
Hier sind schon viele fort aufs Land, wir müssen aber noch bis Mitte Juni warten, haben uns in Interlaken wieder eingemietet. Adresse ist: bei Dr. Aemmer, Lindengarten. Unser vorjähriges Logis konnten wir nicht wieder haben, da die Besitzerin schwer krank geworden. Entschlossen haben wir uns zu einem leider viel kostspieligeren Logis, aber ich konnte mich nicht für einen anderen Ort bestimmen. Interlaken paßt gerade in jeder Beziehung so gut für mich. Nun aber genug des Schwatzens!
Leb’ wohl und vergnügt, lieber Johannes, und denke ’mal wieder etwas öfter
Deiner
alten
Clara.
Marie sendet wärmste Wünsche.

[Umschlag]
Herrn
Dr Johannes Brahms.
Wien IV.
4 Karlsgasse.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Frankfurt am Main
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
2245-2248

  Standort/Quelle:*) Umschlag: A-Wst: 55746,28a
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 

Fehlerbeschreibung*





Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten (Mehr Informationen).
Wenn Sie auf unserer Seite weitersurfen, stimmen Sie bitte der Cookie-Nutzung zu. Ich stimme zu.