Hochverehrter Herr!
Es wird Sie befremden, einen Brief von einem Ihnen ganz unbekannten Menschen zu erhalten, doch nicht so ganz fremd und unbekannt sind Sie mir, dessen Geist mich aus jedem Ihrer Lieder anhaucht; meine Kentniß von Ihnen ist also nur eine geistige. Wollen Sie nun auch mich ein bischen kennen lernen, so stelle ich mich Ihnen vor als einen jungen Menschen, dem die gütige Natur neben einiger Anlage zur Musk auch eine leidliche Tenor-|2|stimme verliehen hat, und der, unter der Leitung vernünftiger Lehrer, seinen Geschmack gediegenen Compositionen zugewendet.
Wenn ich mich nun mit diesem Briefe an Sie wende, so halten Sie es meiner Begeisterung für die Kunst zu Gute. Ich trete nämlich mit der unbescheidenen Bitte vor Sie hin, beiliegenden zwei kleinen Liedern, die ich unter dem Schatz Ihrer Compositionen noch nicht finden konnte, in einer müssigen Stunde einige Beachtung zu widmen, und sie der Welt in Töne übertragen neu vorzuführen, wenn es Ihnen gefallen sollte.
Ich glaube umso gewisser, daß Sie meine Aufforderung nicht von der Hand weisen werden, da Heine’s Lieder sich schon so manigfaltiger Be-|3|arbeitung von Ihnen, Hochverehrter Herr, zu erfreuen haben. Das Rückert’sche Gedicht ist zwar von meinem lieben Freunde Stade in Jena für vier Männerstimmen geistvoll componirt, allein für eine Singstimme gibt es keine Composition, welche der von „Du meine Seele“ würdig an die Seite zu stellen wäre.
Im festen Vertrauen darauf, daß Sie einem Kunstfreunde seine unbescheidene Bitte gewähren, oder doch verzeihen, zeichne ich in aller Hochachtung
Ihr
ergebenster
Alexander Fleischmann.
Koburg den 11 Mai 1850.
|